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60Plus | Horizont | April, 2017
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Wildtiere in der Feldlandschaft

Von Michael Fasel, Biologe.

Der Boden in Liechtenstein ist ein knappes Gut, das ist eine landesspezifische Weisheit. Das Alpenrheintal und im Speziellen der Talraum Liechtensteins ist ein vom Menschen dicht genutzter Ballungsraum. Ausgedehnte Siedlungsflächen, Industriezonen und ein dichtes Strassennetz prägen die Landschaft. Zwischen den Dörfern liegen Landwirtschaftsflächen, durchzogen von Wassergräben und Windschutzgehölzen. Rund 1,8 km2 oder 1,1 % der Landesfläche sind als Naturschutzgebiete ausgewiesen. Während der Wald in Liechtenstein durch das Gesetz gut geschützt ist, nimmt der Nutzungsdruck auf die offene Tallandschaft stetig zu. Neben dem Lebensraumverlust ist auch die Vernetzung in der Landschaft ein Sorgenkind für die Naturkundler. Immer stärker werden naturnahe Lebensräume verinselt, das heisst, durch unüberwindbare Hindernisse oder durch zu grosse Distanzen voneinander getrennt.

Wenig Raum für wilde Natur

Sehr aktuell hält uns der Biber einen Spiegel vor. Von den meisten geliebt, bereitet er anderen Sorgen. Er staut Bäche, bedroht Siedlungs- und Landwirtschaftsentwässerungen, durchbohrt Hochwasserschutzdämme und fällt scheinbar wahllos Bäume. Wo die Biber auftreten, verursachen sie Konflikte mit den jeweiligen menschlichen Nutzungen. Biber sind Meister in der Schaffung von ökologisch hochwertigen Lebensräumen und zeigen uns, wie Naturschutz simpel und einfach und ohne hohe Kosten realisiert werden könnte. Sie zeigen uns aber auch, wie wenig Raum in unserer Landschaft übrig geblieben ist, um intakte Lebensräume zu erhalten oder neu zu schaffen.

Wer ist «Wildtier»?

Es gibt eine jagdliche und eine biologische Definition von «Wildtier». Reh, Fuchs, Dachs und Hase, Fasan, Stockente und weitere Tierarten sind durch das Jagdgesetz geregelt. Darin sind die jagdlichen Wildtiere enthalten, die vom Jäger zu bestimmten Zeiten bejagt und durch die jagdliche Hege gefördert werden. Für die biologische Wissenschaft gilt jede frei lebende, nicht domestizierte Tierart als Wildtier. Dazu gehören neben allen frei lebenden Säugetier-, Fisch- und Vogelarten auch die kleineren Arten der Amphibien, Reptilien, der Schnecken, Insekten, Tausendfüssler und so weiter. Für ein umfassendes Bild der Wildtiere richtet sich unser Blick auch auf alle kleinen, unscheinbaren Arten. Will man diese Arten im Gesamtzusammenhang verstehen, müssen wir die Lebensräume dieser Arten mit einbeziehen. Der wichtigste Lebensraum für die Pflanzen- und Tierwelt ist der Boden. Während sich Waldböden über lange Zeit entwickeln und Humus aus totem Pflanzenmaterial aufbauen können, werden Landwirtschaftsböden laufend mechanisch bearbeitet, bepflanzt, gedüngt und beerntet. Je intensiver die Bewirtschaftung, desto ärmer ist die Artenvielfalt. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen.

Ein Schmetterling in der Höhle des Löwen

Eine Bodenparzelle im Landwirtschaftsgebiet des Eschner Bannrietes besteht unter anderem aus Schilf und Seggen. Das Gebiet hat einen hohen Grundwasserstand und gilt als wechselfeuchte Riedwiese. Weil sie nie gepflügt und gedüngt und nur einmal im Jahr geschnitten wird, beheimatet sie eine Fauna mit verschiedenen seltenen Pflanzen- und Tierarten. Eine dieser Arten ist der Helle Wiesenknopf-Ameisen-Bläuling (Maculinea teleius). Diese Schmetterlingsart geht in ihrer Entwicklung eine Symbiose mit einer bodenbewohnenden Art der Knotenameisen (Myrmica scabrinodis) ein. Die jungen, purpurrot gefärbten Raupen des Schmetterlings fressen zunächst an den Blüten ihrer Wirtspflanze, dem Grossen Wiesenknopf. Im Herbst, nach der dritten und letzten Häutung, werden die Raupen von der Knotenameise aufgesammelt und in ihr Bodennest getragen. Dort ernähren sich die Raupen räuberisch von der Ameisenbrut. Über 90 Prozent der Biomasse der Puppe stammt letztendlich von den Ressourcen der Ameisen. Dieser Streich gelingt der Raupe mithilfe einer chemischen Mimikry, das heisst, sie schmeckt für die Ameisenfühler gleich wie eine Ameisenlarve. Die Schmetterlingsraupen und -puppen werden von den Ameisen gehegt und gepflegt und entwickeln sich im Ameisennest bis zum geschlüpften Schmetterling, der dann im folgenden Frühling ungehindert die «Höhle des Löwen» verlassen kann und seine Eier wiederum an die Wirtspflanzen legt. Diese Symbiose in Form eines Sozialparasitismus unterstreicht den hohen Biotopwert des ungestörten Lebensraums Feuchtwiese. Nur eine einzige Umpflügung einer solchen Parzelle zerstört solche sensible Lebensgemeinschaften von Arten, die als selten beziehungsweise als hochgradig gefährdet eingestuft werden.

Eine Larve des Ameisenbläulings wird im Nest der Wirtsameisen gepflegt und schlüpft als adulter Schmetterling aus dem Ameisennest.

Bodenbrüter als Zeiger der ökologischen Qualität

Um den ökologischen Wert von Landwirtschaftsgebieten zu beurteilen, können sogenannte Zeigerarten herangezogen werden. Die Anzahl bodenbrütender Vogelarten wie Feldlerche, Wachtelkönig, Kiebitz oder auch der Feldhase zeigen auf, wie intakt solche Flächen sind. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war zum Beispiel der Wachtelkönig (Crex crex) in vielen Regionen der Schweiz häufig. Der Ruf des Männchens ist ein unverwechselbares, knarrendes Doppelelement «rrrep-rrrep», nach dem er auch seinen lateinischen Namen bekommen hat. Die Intensivierung der Landwirtschaft, der Verlust von Feuchtgebieten und die Verarmung unserer Landschaft an Kleinstrukturen haben dem Bestand arg zugesetzt. In den 80er-Jahren war der Wachtelkönig praktisch ausgestorben. Einige Dutzend Paare brüten wieder in der Schweiz, und wenige auch in Liechtenstein, im Ruggeller Riet. Seit einigen Jahren sind Wachtelkönige auch im Eschner Riet wieder zu beobachten. Um die Vogelart in der Schweiz zu fördern, hat Birdlife Schweiz einen Aktionsplan entwickelt (www.birdlife.ch), der aufzeigt, welche Ansprüche die Art an den Lebensraum hat. Die Hauptursache für die Bedrohung der Wachtelkönige ist die Mechanisierung der Landwirtschaft und die damit einhergehende und immer noch fortschreitende Intensivierung der Bewirtschaftung. Dadurch geht zum einen Lebensraum verloren, weil die Wiesen für den Wachtelkönig zu dicht werden. Zum anderen erfolgen die Schnitte immer früher und häufiger und auf grösseren Nutzungseinheiten. So wird ein Grossteil der Bruten vermäht sowie Jung- und Altvögel getötet. Wachtelkönige brauchen bis August durchgehend einen ausreichenden Anteil ungemähter, kurzgrasiger Wiesen, die Deckung und Nahrung bieten. Der Wachtelkönig sucht und erbeutet seine Nahrung ausschliesslich am Boden. Die Art ist omnivor mit einem Übergewicht an tierischer Nahrung. Vor allem werden Insekten wie Heuschrecken, Käfer, Schnaken, Libellen und Fliegen erbeutet, gelegentlich auch kleine Nagetiere und Amphibien oder Regenwürmer. Etwas weniger als 20 Prozent der Gesamtnahrung ist vegetarische Beikost, diese besteht vor allem aus grünen Pflanzenteilen sowie aus Sämereien.

Direktzahlungen mit ökologischer Leistung fördern Bodenbrüter

In Gebieten, wo sich einzelne Paare ansiedeln wie im Eschner Riet, sollten Wiesen, in denen Wachtelkönige sich längere Zeit aufhalten und somit Brutverdacht besteht, wenn möglich bis mindestens Mitte August stehen bleiben oder mit einer Streifenmahd mit zeitlich gestaffelten Schnittterminen bewirtschaftet werden. Durch landwirtschaftliche Direktzahlungen, die an solche ökologische Leistungen gebunden sind, könnten Bodenbrüter nachhaltig gefördert werden. Solche Massnahmen, wie hier für den Wachtelkönig beschrieben, würden gleichzeitig auch andere Bodenbrüter unterstützen.

Der Feldhase, einst häufig in der offenen Feldlandschaft anzutreffen, leidet unter der häufigen mechanischen Be-arbeitung des Bodens.

Auch der Feldhase würde von solchen Massnahmen profitieren. Diese Tierart hat eine grosse Zahl von Nachkommen und war noch vor einigen Jahrzehnten sehr häufig in unserem Land zu beobachten. Obwohl sie sich in allen Wiesen- und Feldlandschaften gut anpassen und keine grossen Ansprüche an die Nahrung haben, sind die Hasen sehr selten geworden. Zwischen Schaaner Riet und Balzers sind sie ganz verschwunden. Auch hier ist die Hauptursache in der häufigen mechanischen Bearbeitung des Bodens und der Strukturlosigkeit der offenen Landschaft zu suchen.

Das Reh, eine jagdbare Wildart der Wald- und Feldlandschaft, ist zwar in guten Beständen immer noch erhalten. An den geringen Körpergewichten von erlegten Rehen ist jedoch abzulesen, dass es auch bei dieser Wildart Probleme gibt. Auch werden Rehkitze häufig in den ersten Wochen nach der Geburt bei der Heuernte vermäht. Jäger versuchen dem entgegenzuwirken, indem sie zusammen mit den Landwirten eine Wiese vor dem Mähen durchlaufen und Kitze aus der Wiese tragen, oder sie «verstinken» die Wiese mit duftgetränkten Lappen, um die Geissen vom Betreten der Wiese abzuhalten. Rehe brauchen wie der Hirsch oder die Gämse Ruhe vor Störungen. Querfeldein laufende Menschen oder frei laufende Hunde sind eine permanente Quelle von Unsicherheit für die Rehe und halten diese in «Alarmstimmung». Auch wenn die Störung nicht direkt auf die Tiere einwirkt, beobachten Rehe aus der Deckung heraus und müssen jederzeit bereit sein, die Flucht ergreifen zu können. Das bewirkt Dauerstress. Er wirkt sich in erster Linie auf die Nahrungsaufnahme auf. Rehe äsen häufig, gehen mit gefülltem Pansen in Deckung um wiederzukäuen und anschliessend den Pansen erneut zu füllen. Werden solche Äsungszyklen unterbrochen, kommt es zu einem Energiedefizit durch mangelhafte Ernährung, denn Rehe sind absolute Spezialisten, was die Wahl der Nahrungspflanzen anbelangt. Als sogenannte «Konzentratselektierer» wählen sie der Jahreszeit oder der Tageszeit entsprechend jene Pflanzenarten oder Pflanzenteile aus, die eben gerade optimal für eine schnelle Verdauung geeignet sind. Dies unterscheidet sie wesentlich vom Hirsch oder dem Gams, die auch einmal zufrieden sind, wenn es eine Zeit lang nur Gras zu fressen gibt. Rehe können von Gras allein nicht leben. Sie brauchen eine grosse Artenvielfalt in der Nahrung und können diese in den oft eintönigen Landwirtschaftsflächen nur über weite Strecken erhalten. Dabei ist jeder Gang, der von der Deckung wegführt, ein Weg in ein Gebiet mit potenzieller Störung durch den Menschen.

Aus der Sicht der Wildtiere ist es in der Landschaft Liechtensteins eng geworden. Der Boden ist vor allem im Talraum ein teures und nicht vermehrbares Gut. Nicht nur die Fauna, auch die Pflanzenwelt ist auf naturnahe und wenig intensiv genutzte oder unverbaute Gebiete angewiesen. Es bestehen grosse Bemühungen, vor allem vonseiten der Gemeinden und von naturverwandten Organisationen, Gebiete ökologisch aufzuwerten. Es werden Gewässer aufgeweitet, Waldränder naturnah gestaltet, Magerwiesen geschützt sowie Feldgehölze und Hecken angepflanzt. Es sind kleine Erfolge, die zeigen, wohin es gehen könnte. Dabei stösst man immer wieder auf die gleichen Hemmnisse für solche Massnahmen. Sie sind teuer, es muss gespart werden, und es braucht Land, meist landwirtschaftlich genutzte Flächen, die den Bauern genommen werden. Die seit 2008 wieder eingewanderten Biber, der Wolf, der Luchs, aber auch der Rothirsch zeigen uns, dass wir uns über die Frage klar werden müssen, wie viel Natur beziehungsweise wie viel intakter Lebensraum wir für Tiere und Pflanzen bereitstellen wollen. Dazu brauchen wir eine landesweite Raumplanung für Wildtiere und die Bereitschaft einer Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner Liechtensteins, die Landschaft weniger intensiv zu nutzen und einen Schritt zurückzutreten.