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60Plus | Im Blickpunkt | Juli, 2018
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Insektensterben in Liechtenstein – was tun?

Gastbeitrag von Mario F. Broggi, Triesen

«Wenn die Bienen verschwinden, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben». Dieser fälschlich dem Physiker Einstein zugedachte Bienen-Satz ist deshalb in seiner Verbreitung so erfolgreich, weil er in knapper Form verdeutlicht, wie der Kreislauf des Lebens von den Bestäubern abhängt: erst sterben die Bienen, dann die Pflanzen, dann die Tiere, dann der Mensch. Spätestens seit dem vielbeachteten Film «more than honey» des Schweizers Markus Imhoof im Jahre 2012 ist das «Bienen-Sterben» in aller Munde. Die als Ersatz handelnden chinesischen Landarbeiter, die mit Pinseln die Obstblüten bestäuben, bleiben einem in starker Erinnerung.

Die gespenstische Stille im Leben auf unseren Wiesen gibt es allerdings schon seit dreissig Jahren. Ältere Leute wissen noch um die verklebten Frontscheiben und Scheinwerfer unserer Autos wegen der grossen Zahl aufgeklatschter Insekten. Einigen fällt auch auf, dass bei Wanderungen durch unsere Flur die bunten Schmetterlinge sehr selten geworden sind; es summt und brummt kaum mehr, es fehlt an der Buntheit der Farben. Steriles Einheitsgrün macht sich stattdessen breit; das Gelb des Löwenzahns und des Hahnenfusses zeigen uns eine Überdüngung an. Es ist von einem Insektensterben die Rede. Der Bestand dieser Tiere ist, wie in Deutschland nachgewiesen, selbst in Naturschutzgebieten um etwa 75 Prozent zurückgegangen. Es ist dies ein ökologischer Kollaps mit erheblichen Auswirkungen auf die gesamte Biodiversität. So gilt die Hälfte aller Vogelarten auch als bedroht. Als wichtigster Grund werden die auf Feldern versprühten Pestizide genannt.  Die landwirtschaftlich genutzten Flächen sind zudem ausgeräumt, die Schnitthäufigkeit hat sich auf den Wiesen von einst 2- (Heu und Emd) bis zu 6-mal erhöht. Die Vieheinheiten sind doppelt so gross wie die Tragfähigkeit der Flächen und produzieren zu viel Gülle. Pestizide und Dünger gelangen zudem ins Oberflächen- und Grundwasser, Resistenzen machen Pflanzenschutzmittel unwirksam.

Die landwirtschaftlich genutzten Flächen sind zudem ausgeräumt, die Schnitthäufigkeit hat sich auf den Wiesen von einst 2- (Heu und Emd) bis zu 6-mal erhöht.

Warum richtet sich der Fokus auf die Landwirtschaft? Sie ist flächenmässig der grösste Landnutzer. Der Landschaftspfleger, der die bunten Blumenwiesen geschaffen hatte, ist Vergangenheit. Die Landwirtschaft wird ihrerseits durch die Zersiedlung weiter eingegrenzt und intensiviert sich mit der gegebenen Bodenknappheit. Die Aerosole aus den Düngern und Pestiziden, also die flüssigen Schwebeteilchen, landen nicht nur auf den zu bewirtschaftenden Parzellen, sondern erreichen über viele Kilometer auch das übrige Grünland, den Wald und die Siedlung. Die konventionelle Form der betriebenen Landwirtschaft ist mit den Anliegen der Erhaltung der Lebensvielfalt nicht zu vereinbaren und somit nicht zukunftsfähig. Sie ist aus ökologischer Sicht ein Irrweg, weil vor allem die Bodenfruchtbarkeit nicht nachhaltig erhalten werden kann. Es werden zwar ökologisch motivierte Direktzahlungen ausgeschüttet, die aber ihren Zweck sehr unvollständig erfüllen. So weit, so schlecht. Der Biolandbau ist seinerseits  umwelt- und klimafreundlicher und der Kauf seiner Produkte gilt als gute Tat. Aber Bio ist noch nicht Öko, das heisst auch Bio kann intensiv betrieben werden und öde Flächen gibt es auch hier. Ein ökologisch nötiger Umbau mit mehr Strukturvielfalt und weniger Umweltbelastung  des Ernährungs- und Landwirtschaftssystems ist ohne weitere staatliche Lenkung nicht zu bewerkstelligen. Der Fleischkonsum muss weltweit reduziert werden, weil wir für das Futtergetreide und Soja für die Viehhaltung bereits die Hälfte unserer knappen Landwirtschaftsflächen verbrauchen. Deren wachsende Bereitstellung geschieht heute in Entwicklungsländern immer noch durch Rodung von Regenwald, den «Grünen Lungen» der Welt. Für die Proteinversorgung müssen mehr Hülsenfrüchte gegessen werden, die zugleich die Bodenfruchtbarkeit verbessern. Wer traut sich solch Notwendiges umzusetzen? Stattdessen wirken die Kraftströme der Partikularinteressen erfolgreich dagegen und schaffen es, dringend nötige Verbesserungen zu verhindern. Die Gesundheit von uns Menschen scheint nicht im Vordergrund zu stehen, sondern der Profit. Die biologische Lebensvielfalt geht so weltweit bergab, bis es letztlich uns Menschen auch trifft. Mit allen uns in den Lebensmitteln verabreichten Zusatzstoffen und dem Zuckerüberschuss werden wir allergieanfälliger und kränker. Verstehen wir die eingangs erwähnten vier Jahre vom Tod der Bienen bis zum Menschen als eine sprachliche Umschreibung, also als Metapher, so ist angesagt, dass die Zeitdauer des nötigen Handelns wie bei der Klimafrage begrenzt ist. Das ist bei der Biodiversität politisch noch weniger erkannt als bei der Klimafrage.

Das tönt nun alles sehr pessimistisch und ist es auch aufgrund der Beobachtung der in Liechtenstein vergehenden Lebensvielfalt.

Das tönt nun alles sehr pessimistisch und ist es auch aufgrund der Beobachtung der in Liechtenstein vergehenden Lebensvielfalt. Trotzdem steht man ja am nächsten Tag wieder auf und will nicht griesgrämig werden. Es verbleibt ein Stück weit der Glaube an die Lernfähigkeit von uns Menschen. Für Liechtenstein hätte ich diesbezüglich einige Visionen, die keine Hirngespinste sind. Drei davon seien hier vorgestellt.

Liechtenstein – ein Modell für eine umweltverträgliche Landwirtschaft

Ausgehend von einer Diskussion der verbesserten Selbstdarstellung Liechtensteins in den 1980er Jahren stand damals ein «Image-Amt» zur Diskussion. 1985 regte ich in einer schriftlichen Festgabe des Alpenvereins zum 75. Geburtstag von Alt-Regierungschef Alexander Frick an, stattdessen einige positive Akzente zu setzen. Als Beispiel wurde ein Institut der alpinen Landschafts- und Umweltforschung angeregt, das sich mit einer künftigen umweltverträglichen Landnutzung auseinandersetzt. Dies müsste sich Liechtenstein leisten können, da ihm keine kostspieligen Militärausgaben erwachsen; auch stehen wir bei den Ausgaben für den tertiären Bildungssektor (weiterführende Ausbildungsstätten) gemäss OECD-Statistik auf dem letzten europäischen Platz pro Kopf der Bevölkerung. Stattdessen wurden die «freiwerdenden» Mittel anders umgesetzt, sie entwickelten ein konsumptives Verhalten (mehr Einnahmen = mehr Ausgaben bei wachsenden Ansprüchen), die sich raumwirksam zeigen. Die Übersichtlichkeit des Kleinststaates und die gegebene Prosperität rufen nach Modellen, die beispielgebend wären. Die Auswirkungen der Landwirtschaft und die Überlagerung mit anderen Nutzungsformen sollten in Lösungsansätzen 1:1 getestet werden. Dazu wäre es selbst heute noch nicht zu spät. Wir müssten allerdings das eigene Institut nicht mehr gründen. Ich denke an das renommierte Forschungsinstitut für den biologischen Landbau (FIBL) in Frick (AG) in einer Zusammenarbeit mit der Universität Liechtenstein, dem Liechtenstein-Institut, der Stiftung Zukunft.li und der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA. Sie könnten neue Lösungswege erarbeiten. Damit würde europaweit beispielhaft gewirkt.

Vom Siedlungsbrei zur «Gartenstadt»

Das liechtensteinische Bauvolumen pro Kopf ist jahrzehntelang viermal höher als in Deutschland und doppelt so hoch als dasjenige der Schweiz. In 60–70 Jahren wird bei gleichbleibender Bau-Aktivität im Liechtensteiner Alpenrheintal der Stadtstaat erreicht sein. Man kann dann von einer «Monegassierung» sprechen. Dabei haben wir bereits vor 50 Jahren eine Bauzone ausgewiesen, die rund 100000 Einwohnern Platz bietet und trotzdem wird diese ständig erweitert. Ein nicht fortentwickeltes Boden- und Steuerrecht trägt hierzu bei; wir kennen beispielsweise keine zeitlichen Fristen für ein Bauen innerhalb der Bauzone wie in der Schweiz oder in Vorarlberg. Unsere Strukturen sind auf Mehrverbrauch ausgerichtet, wobei sich wenige darüber Gedanken machen, wie das mit dem Landschaftsverbrauch bei knappen Ressourcen weitergehen soll. Das wird in der Tagespolitik verdrängt, was staatspolitisch betrachtet bedenklich ist.

Man kann nun weiter über die Zersiedlung lamentieren oder aber Zukunftsbilder entwerfen, die den Entwicklungsprozess beeinflussen. Sie sind ein Appell an die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, die Weichen für eine nachhaltige Entwicklung zu stellen. Unser derzeitiger «ökologischer Fussabdruck» ist rund viermal zu gross und dadurch werden wirtschaftliche und gesellschaftliche Kriterien der nachhaltigen Entwicklung verletzt. Für die notwendige Umorientierung braucht es aber mehr als nur technische Innovationen. Es sind tiefgreifende gesellschaftliche Lernprozesse einzuleiten und es braucht eine Rückbesinnung auf Werte wie Eigenverantwortung, Ethik, Solidarität zwischen und innerhalb von Generationen sowie Fairness.

Dynamische Wachstumsprozesse haben das Alpenrheintal seit den 1960er Jahren wesentlich verändert. Die Raumplanung konnte diese Entwicklung kaum gestalten. Dies führt zur Idee, zu versuchen den Wildwuchs zu kultivieren und in eine «Gartenstadt» zu transferieren. Eine Gartenstadt ist eine Agglomeration, die für gesundes Leben und Arbeiten geplant ist, gross genug um ein volles gesellschaftliches Leben zu ermöglichen. Sie soll weiterhin die Nutzungen von Bauland und Nichtbauland trennen und die äusseren Ränder der Ortschaften besser zu den offenen Landschaften als «Grüne Lungen» abgrenzen. Nur durch die klare Grenzziehung zum Naturraum gedeiht Urbanität, erst die umgebende Landschaft verleiht einer Ortschaft Gestalt und Identität. Es soll versucht werden, Zentren mit einer Konzentration von öffentlichen Gebäuden zu schaffen, ähnlich der Zentrumsbildung in Schaan. Solche Zentren sind für den öffentlichen Verkehr bedeutsam, denn die Zersiedlung mit der starken Trennung von Wohnen und Arbeiten bedingt den zunehmenden Einsatz des privaten Motorfahrzeugverkehrs, eines der drückenden Probleme des Tals. Viele Ortschaften besitzen auch noch viel unverbautes Land in ihrem Innern. Davon sind Teile weiterhin nicht zu überbauen, um so wertvolle Innenränder mit öffentlichem Grün zwischen Zentrum, Wohnen und Arbeiten zu gestalten. Mit der Sicherung solcher äusserer und innerer Ränder wird es gelingen, das Erscheinungsbild einer «Gartenstadt» zu erreichen und Lebensqualität zu erzeugen.

Die Rheinaufweitungen als Signal für «ein anderes Leben»

Die Bewohner des Tals richten ihren Blick nach wie vor meist auf das Innere des eigenen Nationalstaates und stehen darum mit dem Rücken zueinander. Die Grenzziehung inmitten des Tals erschwert den in vielen Belangen befreienden Blick auf die andere Seite und auf das Ganze. Nur langsam setzt sich durch, dass Entwicklungschancen für die Talgemeinschaft nicht genutzt werden. Der heute durchwegs kanalisierte Fluss ist die Hauptschlagader des Tals. Mit ihm beschäftigen sich die Wasserbauer seit 200 Jahren. Von der Forschung wurde erkannt, dass das «Ökosystem Fliessgewässer» mehr Raum braucht als wir ihm zugesprochen haben. War der Rhein anfangs des 19. Jahrhunderts noch rund 1000m breit, so wurde sein Bett am Ende dieses Jahrhunderts auf 100 Meter reduziert. Die ersten Ideen diese «Wasser-Autobahn» wieder zu beleben sind über 30 Jahre alt, also eine Menschengeneration. Diesem Fluss sollte wieder eine natürliche Dynamik ermöglicht und gleichzeitig die Hochwassersicherheit verbessert werden. Damit soll der «Lebensraum Alpenrheintal» nicht nur eigenschaftsloser Raum der Ströme des Kapitals, der Waren, des Verkehrs, der Touristen und eines schnellen Wasserabflusses sein, sondern auch zum «Psychotop» für die Anwohner werden. Damit wird das Alpenrheintal wieder sicherer, schöner, erlebnisreicher und naturnäher. Die Wiederbelebung des Rheins ist für die Talgemeinschaft in den nächsten Jahrzehnten das grösstegemeinsame Reparaturwerk. Öffnen wir die Grenzen in unseren Köpfen und nehmen wir den Alpenrhein in die Aufmerksamkeitsmitte! Gibt es eine postindustrielle Idylle, ein zwischen dichten urbanen Polen wiedergefundenes Land, indem die Tier- und Pflanzenwelt und der Mensch für seine Erholung das Gebiet zurückerobern? Dies wäre eine hohe kulturelle Leistung!

Mario F. Broggi

Mario F. Broggi (1945), geboren in Sierre (VS), aufgewachsen Basel-Allschwil, seit 1969 in Liechtenstein wohnhaft. Studium der Forstwirtschaft ETHZ, Doktorat der Universität für Bodenkultur Wien, Habilitation an der Universität Wien mit Themen der Landnutzung und des Naturschutzes, Universitätsdozent in Basel und Wien. 30 Jahre freiwerbender Ökologe mit Bürositzen in Liechtenstein, Zürich, Vorarlberg und Wien, Direktor der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), weiterhin in Naturschutz-Stiftungen tätig.