zurück
60Plus | Im Blickpunkt | Dezember, 2020
A A

Auf Gebautem bauen – Mit Gebautem bauen

Upcycling als hoffnungsvolles Prinzip für Liechtensteins Architektur (Teil III) von Marcus Büchel

Wir befassen uns im dritten und abschliessenden Teil dieser Serie mit dem Erhalt von Bauwerken, mit den Möglichkeiten, diese baulich weiterzuentwickeln, um sie umnutzen zu können und stellen die Prinzipen des zirkularen Bauens vor. Im Speziellen interessiert uns die Anwendbarkeit der Prinzipien des Upcyclings auf Liechtenstein.

Die ehemals nachhaltige Nutzung wurde durch immer raschere Zyklen zwischen Produzieren und Entsorgen abgelöst. Energie-und Ressourcenverbrauch einerseits, Abfall- und Müllberge andererseits waren die Folgen.

Allen menschlichen Erzeugnissen sind Abnutzung, Verschleiss und Verfall eigen. Da die Geschichte weitgehend von Materialknappheit und Energiemangel geprägt war, wurde bei Material und Energieaufwand gespart, wo es ging. Neben Arbeit und Energie bestimmt die Arbeit, die investiert wird, den Wert von allem, was hergestellt wird. Es waren also Notwendigkeit und ökonomische Vernunft, die unsere Vorfahren dazu brachten, Produkte möglichst lang zu verwenden, diese, wenn es nötig wurde, als Ganzes zu reparieren oder wenigstens Teile weiterzuverwenden. Produkte konnten neue Funktionen erhalten oder wurden umgebaut. Teile fanden neue Verwendung, indem sie irgendwo eingebaut oder sonst wie eine Bestimmung in einem neuen Funktionszusammenhang fanden. Mit der seriellen industriellen Fertigung sowie mit dem Zurverfügungstehen von billiger Energie in jeder gewünschten Menge änderte sich der Umgang mit Produkten radikal. Die ehemals nachhaltige Nutzung wurde durch immer raschere Zyklen zwischen Produzieren und Entsorgen abgelöst. Energie-und Ressourcenverbrauch einerseits, Abfall- und Müllberge andererseits waren die Folgen. Die Leser dieses Magazins sind Zeugen dieses Übergangs, als die modernen Plastikprodukte, die in den Haushalten Einzug gehalten hatten und mangels Müllabfuhr auf den Misthaufen landeten, nicht verrotten wollten. Kaum noch ein Bach, ein Teich oder eine Senke im Gelände hätte sich in den 1950er- und -60er-Jahren Jahren finden lassen ohne Autoreifen, Batterien, Öl, Autowracks und dergleichen Müll. Die heutigen Alten konnten miterleben, wie die Einführung der Ökologie in die Ökonomie durch Umweltschutz, Abwasserreinigung, Entsorgungsvorschriften und Recycling einen radikalen Wandel zum Besseren brachte. Und niemand, der den katastrophalen Ausgangszustand erlebte, wird den riesigen Fortschritt bezweifeln.

Doch, wo wir heute stehen, ist ebenso ungewiss wie in den 1950er- und -60er-Jahren. Wir tasten uns in die Zukunft und werden erst im Nachhinein erkennen können, was gut und was schlecht an unserem heutigen Tun war.

Soweit wir heute erkennen können, hinken wir in der Bauwirtschaft der allgemeinen ökologischen Entwicklung  hinterher. Wie Alltagsgegenstände sind auch Gebäude zu Wegwerfprodukten geworden. «Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde historisch wertvoller Baubestand meist achtlos durch die Abrissbirne und Sprengung beseitigt und nicht demontiert oder erweitert.» Wie Kuzniatsova und Conzett belegen, herrschen heute auch in Liechtenstein Abbruchwahn und Ersatzdenken. Dazu kommt: Mit der Beschleunigung des gesellschaftlichen und technologischen Wandels ändern sich die Nutzungsanforderungen noch rascher. Das führt zum augenfälligen Phänomen, dass viele Gebäude, ihrer ursprünglichen Funktion beraubt, leer stehen und «aufgrund einer renditeorientierten Investitionspraxis oft vor Ende ihrer Lebensdauer abgerissen oder ersetzt» werden. Wir sehen uns mit folgender Paradoxie konfrontiert: Es wird zwar auf Langlebigkeit und immer teurer gebaut, aber immer rascher abgerissen. Eine ungeheure Verschwendung ist eine der Hauptfolgen.

Philipp Entner und Daniel Stockhammer von der Universität Liechtenstein plädieren in ihrem Beitrag für einen «Paradigmenwechsel», für ein radikales Umdenken vom «linearen zum zirkulären Bauen».

«Um den Ressourcenbedarf von Liechtenstein zu decken, wird etwa das Viereinhalbfache der Landesfläche benötigt. Die Bauwirtschaft ist der Haupttreiber im Materialverbrauch und für 65 % aller Abfälle verantwortlich». Philipp Entner und Daniel Stockhammer von der Universität Liechtenstein plädieren in ihrem Beitrag für einen «Paradigmenwechsel», für ein radikales Umdenken vom «linearen zum zirkulären Bauen». Es genüge keineswegs, ein bisschen zu optimieren, um zu einer «abfall- und schadstofffreien Architektur» zu gelangen. Wollen wir in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass der Bausektor weltweit einen Anteil von um die 40 % am Endenergieverbrauch sowie an den CO2-Emissionen aufweist. Die Aufgabe, bei beiden Messgrössen eine substantielle Reduktion zu erreichen, ist also gewaltig.

Die Grundidee des zirkulären Bauens ist einfach: Statt als (potentieller) Abfall wird die Gesamtheit der Bauten sozusagen als eine einzige überirdische Mine betrachtet. Der Gebäudebestand stellt in diesem Sinne nicht nur eine «energetische sondern auch eine kulturelle, soziale und architektonische Ressource» dar.

Liechtensteins schlummernder Reichtum – Die Materialbank

Nach Berechnung der Autoren beträgt die Gesamtmasse sämtlicher Gebäude in unserem Land 6,8 Millionen Tonnen. Diese setzt sich aus verschiedenen Baumaterialien zusammen: Stahlbeton, Tonziegel, mineralische Baustoffe, Metalle, sowie nicht oder schlecht wiederverwertbaren Materialien. Der Wert dieser Materialbank beträgt ca. vier Milliarden Franken. Heute werden pro Jahr 35 000 Tonnen Material mit einem Rohmaterialwert von 20,4 Millionen Franken abgebrochen und ausser Landes geschafft, dafür müssen 95 000 Tonnen im Wert von 55,4 Mio. jährlich eingekauft werden. Das ist offenbar Unsinn. «Baubestand ist nicht nur ein stetig wachsendes, sondern auch das grösste und wertvollste physische Rohstofflager im Land. Bau- und Siedlungsabfälle werden unsere wichtigste materielle Ressource», die zu verschwenden wir uns nicht mehr werden leisten können.

«Mit der Zerlegung der Bauteile gehen die Arbeit und das Wissen über deren Herstellung und Fügung, mit dem Recycling die Energie und Geschichte in den Baustoffen verloren.»

Wieso reicht Recycling nicht? 80 % des Abbruchmaterials wird heutzutage zwar recycliert, aber grösstenteils nur in minderwertiger Funktion weiterverwertet (Downcycling), 20 % landen überhaupt auf der  Deponie (das sind in Liechtenstein 7000 Tonnen pro Jahr) oder werden verbrannt. «Mit der Zerlegung der Bauteile gehen die Arbeit und das Wissen über deren Herstellung und Fügung, mit dem Recycling die Energie und Geschichte in den Baustoffen verloren. Erhalt, Um- und Weiterbau sowie Wieder- und Weiterverwendung sollten, wenn immer möglich, gegenüber dem Abbruch und Recycling bevorzugt werden.»

Um derartige Materialbanken anzulegen, bedarf es als Grundlage zunächst einmal einer genauen Erfassung der wiederverwertbaren Bauteile. Am Institut für Architektur und Raumentwicklung wurden exemplarische Gebäude in Liechtenstein ausgewählt. In einer virtuellen «Dekonstruktion» lässt sich ein Bauteil- und Baustoffinventar nach Volumen erstellen und grafisch darstellen. Damit weiss man, wieviel von welchen weiterverwendbaren Materialien sich wo befindet. Von der hier beschriebenen Modellberechnung bis zum völlig abfallfreien zirkularen Bauen einer gesamten Wirtschaft wird noch ein weiter Weg zurückzulegen sein. Aber die andernorts bereits eingerichteten Materialbänke und die daraus erbauten Häuser zeigen, dass die Idee im Prinzip funktioniert.

Einfälle statt Abfälle

Um den Paradigmenwechsel vollziehen zu können, gilt es bereits in der Planungsphase bei der Wahl der Bauteile auf deren spätere Wiederverwertbarkeit zu achten. Damit in Zukunft jedes Gebäude zur Materialbank werden kann, wäre grundsätzlich nur noch der Einsatz von Baumaterialien von hoher Qualität und damit hoher Lebensdauer in Betracht zu ziehen. Überhaupt scheinen sich Kunststoffe und komplexe Kompositmaterialien nicht für die Kreislaufwirtschaft zu eignen. Holz, Stein, Ziegel, Glas, Metall u.s.w. sollten in «Reinform» verarbeitet und verbaut werden, sodass bei der «Dekonstruktion» mit möglichst geringem Aufwand «reinsortige» Bauteile ausgebaut werden und bei einem neuem Gebäude Verwendung finden können. Ziegel etwa müssten statt mit hochfestem Mörtel mit lösbarem verbunden werden; damit wird es möglich, die Ziegel ohne Beschädigung zu trennen. Die gesamte Technologie des Bauens müsste sich im Wortsinne fundamental ändern. Die Logistik wird gewiss deutlich komplexer. Da die Ansprüche an das Handwerk anspruchsvoller sind, würde dieses eine Aufwertung erfahren.

Der Bündner Architekt Conradin Clavuot, ehemaliger Gastprofessor für Kulturelle Nachhaltigkeit an der Universität Liechtenstein, kritisierte bereits vor Jahren den «Unsinn des heutigen Bauens» und plädierte für eine Kehrtwendung ganz im Sinne des zirkularen Bauens: «Bauen wir doch einfach mit null Technik, mit Stein, Kalksandstein, Holz, Lehm, Stroh und mit Beton nur am notwendigsten und richtigen Ort. Viel Speichermasse, diffusionsoffene Wände, ein guter Sonnenschutz und eine minimale Notheizung. Die Fenster können Sie dann öffnen, wann sie es wollen.»

Stockhammer und Kollegen beschränken sich nicht in akademischer Zurückhaltung auf die Darlegung theoretischer Positionen. Es ist als besonderer Vorzug ihrer Arbeit anzusehen, dass Forschung, Lehre und Praxis verbunden werden. Das, was auf der Universität gedacht und geforscht wird, wird konkret auf die Anwendung in der liechtensteinischen Wirklichkeit untersucht. So werden Lösungsansätze aufgezeigt, wie innovative Konzepte und Geschäftsmodelle zur Einführung einer Kreislaufwirtschaft – die in anderen Ländern zumindest in Nischen bereits existiert – auf die «hiesige (Rück-)Bauwirtschaft» übertragen werden könnten. Natürlich ist den Verfassern klar, dass die Kreislaufwirtschaft beim Bauen ohne ökonomischen Treiber nicht zu einer relevanten Grössenordnung anwachsen würde. Erst die Verknappung oder der Stopp der Ressourcenzufuhr würde zur Verteuerung der Baumaterialien führen und damit würde die Wieder- und Weiterverwertung auch wirtschaftlich interessant.

Der Begriff Upcycling beinhaltet zwei Aspekte: Erhalt und Weiterbauen am Bestand einerseits, sowie Weiterverwendung von Bauteilen und Baumaterialien (zirkulares Bauen) andererseits. Diese zwei Prinzipien scheinen auf den ersten Blick im Widerspruch zu stehen, da es im einen Fall um den Gebäudeerhalt und im zweiten um «Dekonstruktion» im Sinne einer systematischen Zerlegung geht. Der Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man die Strategien zur Abfallvermeidung auf das Bauen überträgt. Entner und Stockhammer münzen das Modell der Null-Abfall-Initiative von Bea Johnson auf die Architektur um. Dieses stellt eine Entscheidungshierarchie dar: Die erste Priorität (Stufe 1) wird geschützten oder schützenswerten Bauten eingeräumt. Bei diesen sollen Neubaumassnahmen vermieden werden. Stufe zwei: Bei erhaltenswerten Bauten sind Baumassnahmen am Bestand angezeigt, d.h. Um- und Weiterbau. Erst Stufe drei sieht bei nicht erhaltenswerten Gebäuden deren «Dekonstruktion» vor, also die systematische Zerlegung des Baukörpers in Bauteile, die dann wieder verbaut werden. Die nächste Stufe (4) entspricht dem, was wir heute unter Recycling verstehen, nämlich den Abbruch und darauf folgend die Baustofftrennung für die Wieder- oder Weiterverwertung. Was dann noch übrig bleibt (Stufe 5), sind nach diesem Modell nur noch jene Bauwerke, die schadstofffrei dem Zerfall überlassen werden können (z.B. das Verrotten einer Blockhütte im Wald). Dieses Fünf-Stufen-Modell stellt ein Wertesystem zum Umgang mit dem Baubestand dar, wobei die Prioritäten eindeutig beim Erhalt liegen.

Die Kultur des Weiterbauens

Wir haben in den beiden ersten Beiträgen mit der Anwendung des Prinzips Upcycling einen grossen Bogen gespannt: Von der Reparatur und Aufwertung von Objekten aller Art bis zum Upcycling grosser Gebäudekomplexe. Dem Wiederaufbau des Schlosses Vaduz haben wir Platz gegeben und als herausragendes, frühes Beispiel für Upcycling gewürdigt. Auch aus den darauf folgenden Jahrzehnten sind in Liechtenstein einige bedeutende Werke des Weiterbauens am Bestand bis heute überliefert, so der Anbau an das (ehemalige) Hotel-Restaurant Falknis in Vaduz. In Schaan erhielten in den 1930er- und -40er-Jahren das (ehemalige) Café Central, das (ehemalige) Gasthaus Linde und das Möbelhaus Thöny an der Bahnstrasse Zubauten. Die Bauherren hatten die Architektur bei allen vier Liegenschaften Ernst Sommerlad anvertraut.

Das Bauen am Bestand riss danach keineswegs ab. Auch aus den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts finden sich zahlreiche private Bauten, die erweitert oder für neue Nutzungen adaptiert wurden. Das Weiterbauen ist anspruchsvoll und so verwundert es nicht, dass in ästhetischer Hinsicht beileibe nicht alle Lösungen als gelungen bezeichnet werden können. Aufsehen erregt hat in jüngster Zeit die Umnutzung eines Gebäudes in Bendern, von einer Klinik (Medicnova) zu einem Casino.

Die beiden herausragenden Beispiele für Umnutzung bzw. Bauen am Bestand wurden um die Jahrtausendwende realisiert. Sie ragen heraus sowohl bezüglich der Dimensionen als auch der Qualität der alten Bausubstanz. Es sind die zwei Fabrikkomplexe der ehemaligen Jenny, Spoerry & Cie. Nach einem tiefgreifenden Umbau der Vaduzer Fabrik fand hier die neugegründete Universität Liechtenstein 2002 ihre Heimstätte. Sehr viel zurückhaltender in baulicher Hinsicht fiel die Umwidmung der Triesner Niederlassung der Spoerry-Fabrik aus. In diesen Gebäuden, die erfreulicherweise unter Denkmalschutz stehen, quartierten sich neben Einrichtungen der Kultur (Gasometer) sowie des Gewerbes, Radio Liechtenstein (heuer nach Schaan disloziert), die Privatschule Formatio sowie die Private Universität Liechtenstein ein. Es ist augenfällig, dass beide universitären Einrichtungen Liechtensteins auf Industriebrachen, die klugerweise gerettet und weiterentwickelt wurden, ihren Campus aufgeschlagen haben.

Bei weiträumigen Arealen mit ausgedehnten Gebäuden, die ihre bisherige Funktion verloren und daher häufig neue Eigentümer erhalten haben, bedarf es der Visionen, um neue Nutzungen und architektonische Lösungen zu ersinnen und der Entschlossenheit, derart komplexe Aufgaben auch anzugehen.

Diese Feststellung führt weiter zum Gedanken, eine Wechselwirkung zwischen dem Baubestand und der Nutzung anzunehmen. Die Annahme, das Vorhandensein von grossräumiger Bausubstanz habe die Etablierung der Universität Liechtenstein, der Privaten Universität oder des bemerkenswerten Triesner Kulturzentrums zumindest befördert, ist nicht von der Hand zu weisen. Bei weiträumigen Arealen mit ausgedehnten Gebäuden, die ihre bisherige Funktion verloren und daher häufig neue Eigentümer erhalten haben, bedarf es der Visionen, um neue Nutzungen und architektonische Lösungen zu ersinnen und der Entschlossenheit, derart komplexe Aufgaben auch anzugehen. Grosse Überbauungen wie Fabrikgebäude oder Hotels zu sanieren, überfordert viele Entscheidungsträger, seien es Private oder die öffentliche Hand, weil es an Phantasie mangelt, etwas damit anzufangen. Das Abreissen mag dann entlastend wirken, weil damit die Ursache der Überforderung beseitigt ist.

Andererseits vermögen grosse Gebäude oder Gebäudekomplexe die Fantasie zu beflügeln, regen sie doch die Kreativität an, etwas Zeitgemässes im Alten zu realisieren: Neue Nutzungsmöglichkeiten müssen überlegt werden, weil ein Platz und Raum bietender Gebäudebestand einfach schon da ist. Wie der an sich beschränkende Bilderrahmen bei einem Maler die Fantasie anregt, die darin aufgespannte Leinwand möglichst künstlerisch zu bedecken, vermögen architektonische Gegebenheiten Ideen anzuregen. Gerade in der Beschränkung durch das Gegebene liegt der Ansporn für den kreativen Akt. Und so können spannende Projekte entstehen, die funktionslos gewordenen Gebäude wieder- und neu zu beleben, indem für sie eine sinnvolle Nutzung gefunden wird. Die neue Zweckwidmung wiederum sichert deren Weiterbestand.

Selbstverständlich sind Erhalt und Upcycling jedoch nicht. Daher verschwinden nicht nur ausgediente Bauten; mit ihnen gehen auch Chancen verloren, aus Altem Neues zu gestalten.

In den letzten Jahren wurde das Potential von Industrie-brachen in vielen Ländern zunehmend erkannt und etliche Architekten haben sich mit vielbeachteten Projekten hervorgetan. Selbstverständlich sind Erhalt und Upcycling jedoch nicht. Daher verschwinden nicht nur ausgediente Bauten; mit ihnen gehen auch Chancen verloren, aus Altem Neues zu gestalten. Auf einen besonders gravierenden Fall einer verpassten Chance stösst man unweigerlich, wenn man am Schwimmbad Mühleholz vorbei Richtung Vaduz radelt. Dort, wo heute Schafe weiden, stand einst das Fabrikareal der PAV. Man könnte dem Gebäudekomplex hinterherweinen, bei dem aufwallenden Gedanken, was an diesem Ort alles an Kreativität sich hätte entwickeln können.

Es gibt noch grössere Anlagen als Fabrikkomplexe, auf die das Upcycling-Prinzip angewendet werden kann. In seinem Beitrag zum Sammelband befasst sich der junge Triesner Architekt Johannes Rederer mit einer solchen. Als Mitglied der Forschungsgruppe um Daniel Stockhammer widmete er sich der seit Jahren stillgelegten Festung Sargans, einer Anlage wahrhaft gigantischen Ausmasses mit «Hunderten von Felswerken, Bunkern und Sperren» und entwarf «ein Leitbild zur Weiterverwendung einer der bedeutendsten Festungsanlagen Zentraleuropas». Der Autor konzipiert verschiedenste Nutzungen für militärische Bauten, die nicht rückbaubar sind. Parkanlagen mit einem Wegenetz sollen entstehen, die als Erholungsraum für Menschen sowie als Biotope und Schutzgebiete für Fauna und Flora dienen. Ich erwähne diesen ebenso kühnen wie originellen Beitrag, weil er die unglaubliche Bandbreite des Upcycling-Paradigmas anschaulich macht. Selbst so sperrige und jedem Eingriff zu trotzen scheinende Bauwerke wie militärische Anlagen können mit einer ebenso menschenfreundlichen wie ökologischen Zielsetzung im Sinne des Upcyclings entwickelt werden.

Abbruch droht

Kehren wir vom militärischen Gigantismus wieder zurück auf das bürgerliche Mass und damit in die Strassen Liechtensteins. Landauf, landab könnte man Gebäude wie der Förster zu fällende Bäume markieren, deren Schicksal besiegelt zu sein scheint.

Zahlreich haben sich Bürger und Bürgerinnen sowohl für den Erhalt der «Linde» in Schaan (erbaut 1890/1891) als auch des «Madleni-Hus» aus dem Jahre 1803 in Triesenberg eingesetzt und ihre Überzeugung in Leserbriefen zum Ausdruck gebracht.

Auch ohne die fachlichen Kriterien zu kennen, die das Kulturgütergesetz anlegt, scheint das Sensorium in der Bevölkerung für erhaltenswerte Bauten – meist wird es sich um ältere Objekte handeln – gestiegen zu sein. Zahlreich haben sich Bürger und Bürgerinnen sowohl für den Erhalt der «Linde» in Schaan (erbaut 1890/1891) als auch des «Madleni-Hus» aus dem Jahre 1803 in Triesenberg eingesetzt und ihre Überzeugung in Leserbriefen zum Ausdruck gebracht. Dass viele ältere Gebäude, die im Sinnes des Gesetzes als Kulturgut zu werten und also zu erhalten wären, dennoch abgerissen werden, ist gewiss nicht nur als Mangel der Durchschlagskraft des Gesetzes anzusehen. Wir müssen mit bitterem Beigeschmack zur Kenntnis nehmen, dass unsere Gesellschaft keine Wertegemeinschaft bildet, die entschlossen wäre, ihre Kultur(-güter) für sich selbst und die Nachkommen zu erhalten.

Noch geringer ist das Bewusstsein für den Erhalt neuerer Bauten, die infolge eines Bedürfnis- oder Strukturwandels ihre ursprüngliche Funktion verloren haben.

Vom Abbruch bedroht – eine kleine Auswahl aus dem 20. Jahrhundert

 

Schaan:

  • Geschäfts- und Bürohaus «Im Zentrum», erbaut 1991–1992, Architekt Richard Wohlwen

Vaduz:

  • Gasthaus Mühle (1976)
  • Liecht. Landesspital (1977 – 1981)

Triesenberg:

  • Walsermuseum im Dorfzentrum, erbaut 1977–1980, Architekt Hans-Walter Schädler

Im Kasten sind einige wenige Gebäude ausschliesslich aus dem 20. Jahrhundert aufgelistet, denn diese gelten, nachdem sie ihre ursprüngliche Funktion verloren haben, von vornherein nicht als erhaltenswert. Es ist hier nicht der Ort, um auf die einzelnen Gebäude detailliert einzugehen. Aber so viel: Der Upcycling-Ansatz, den wir kennengelernt haben, bestärkt die Vermutung, dass die Zerstörung von Gebäuden schon unter einem energetischen Gesichtspunkt zu vermeiden ist. In im Wortsinn materieller Hinsicht sind bei einer «Dekonstruktion» die Bauteile zu «ernten», um anderswo wiederverwertet zu werden. Die Zerstörung ist nicht nur unökologisch, sie vernichtet Arbeit und Werte, die geschaffen wurden. In einer umfassenden Betrachtung würde bereits der materielle Wert eines Gebäudes höher als heute üblich zu veranschlagen sein. Über das Materielle hinaus verbinden sich mit  Gebäuden persönliche und soziale Bedeutungen («mein Lebenswerk», «da habe ich meine Kindheit verbracht», «hier haben wir jede Woche gejasst /sind täglich vorbeigegangen»); somit haftet gleichsam an ihnen eine starke symbolische, gemeinschaftsbildende Kraft («unsere Kirche», «das Haus, das zum Lindenplatz gehört», «das weltbekannte Restaurant in Vaduz»).

Wie wir gesehen haben, gibt es ernstzunehmende fachliche Argumente gegen das Abreissen als Mittel der Wahl und ebensolche für Umbau, Wieder- und Weiternutzung. Auch in der Bevölkerung scheint die Abrissepidemie zunehmend zum Thema zu werden. Weil Gebäude eine Bedeutung haben und zu ihnen Bindungen bestehen, ist deren Schicksal den Bürgern nicht egal. Darüber hinaus dürfte das Bewusstsein für sinnlose Verschwendung allgemein gestiegen sein. Vor allem dann, wenn Bauwerke im Eigentum der öffentlichen Hand nach nur wenigen Jahrzehnten abgerissen werden sollen, wächst der Widerstand. Die Reaktion kann nicht verwundern, denn wenn vernichtet wird, was für Bürgerinnen und Bürger einen Wert darstellt, wird dies als aggressiver Akt empfunden.

Die Signale aus der Bevölkerung wusste der Vaduzer Gemeinderat offenbar nicht zu deuten, will er doch an der Abbruchentscheidung festhalten. Auch in Triesenberg setzen sich Bürger für den Erhalt von Gebäuden ein.

Was sich als Widerstand in Leserbriefen äussert, zeigte sich jüngst als politische Handlung, als Anita Mathis-Frommelt das Referendum gegen die Zerstörung des ausser Dienst gestellten Landgasthofs Mühle ergriff. Die Signale aus der Bevölkerung wusste der Vaduzer Gemeinderat offenbar nicht zu deuten, will er doch an der Abbruchentscheidung festhalten. Auch in Triesenberg setzen sich Bürger für den Erhalt von Gebäuden ein. Das Engagement gilt seit Jahren dem Madleni-Hus und richtet sich aktuell gegen den Abriss des Walsermuseums, welches einen integralen Bestandteil des Gemeindezentrums bildet. Aus diesen Gebäuden liesse sich ebenso wie aus dem Landesspital, dem Haus «Im Zentrum» oder der «Linde», etwas Intelligenteres machen als Kies, Altmetall und Sondermüll.

Ein Tor in die Zukunft

Nicht nur historische Baudenkmäler sind erhaltenswert, sondern auch zahlreiche moderne Gebäude, die ungenutzt der Verwahrlosung ausgesetzt sind. Die Erhaltenswürdigkeit von Bauten sowie das Upcycling werden zwar in Liechtenstein erforscht, doch ist diese Idee bei Entscheidungsträgern kaum noch angekommen. Eine politische Strategie zum Weiterbauen am Bestand, zur Wiederverwenden und zum Weiterverwenden ist in den politischen Agenden der Parteien nicht erkennbar. Im Gegenteil: Deponieräume werden weiter ausgedehnt. Eschen plant bereits eine neue Deponie im Nendler Gebiet Pürstwald-Kracharüfe.

«Liechtenstein hätte – dank seiner Kleinräumigkeit – die Möglichkeit, als (mitteleuropäischer) Modellfall zum Testlabor und Vorreiter einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen zu werden.»

Die Forscher am Institut für Architektur und Raumplanung wagen eine mutige These: «Liechtenstein hätte – dank seiner Kleinräumigkeit – die Möglichkeit, als (mitteleuropäischer) Modellfall zum Testlabor und Vorreiter einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen zu werden. Dazu ist die Heterogenität der Siedlungsstruktur modellhaft, die Innovationsbereitschaft ist hoch und Entscheidungen können schnell gefällt werden.» Die Fachleute sind an unserer staatlichen Universität vorhanden. An deren Unterstützung durch Rat und Tat ist nicht zu zweifeln. Ihr Know-how bräuchte nur noch abgerufen werden. Ein Anruf genügt.

Literatur: Daniel Stockhammer, Herausgeber für das Institut für Architektur und Raumentwicklung der Universität Liechtenstein: Upcycling. Wieder- und Weiterverwertung als Gestaltungsprinzip in der Architektur. Triest Verlag für Architektur, Typografie und Design, Zürich, 2020.

Bildnachweis S. 35: Entner, Stockhammer mit freundlicher Genehmigung; alle übrigen Fotos vom Autor.