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60Plus | Jahreszeiten | Oktober, 2021
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«Waldwirtschaft» contra «Forstwirtschaft»

Von Dr. Felix Näscher

Wir erwarten vom Wald Ökosystemleistungen. Ob als schnellwüchsiger Auwald entlang des Rheins oder als scheinbar dahinserbelnder Bergwald am Zigerberg – jeder Waldbestand erzeugt vielfältige, tagtäglich nachgefragte Ökosystemleistungen: Der Wald umfasst den grössten, zusammenhängenden Naturraum, formt einen ganzjährig zur Verfügung stehenden Lebensraum für Pflanzen- und Tierarten, ist eine Quelle der Biodiversität sowie ein Pfeiler des Naturschutzes, gestaltet das vertraute Bild unserer Landschaft und prägt damit unsere physische Heimat; er spielt eine Rolle im Klima- sowie Trinkwasserschutz und stellt dem Menschen einen natürlichen Freizeit- sowie Regenerationsraum zur Verfügung; dazu trägt er zur Verminderung von Naturgefahren bei und liefert bei alledem noch den vielfältig verwend- und verarbeitbaren Rohstoff Holz.

Ökosystemleistungen erbringt unser Wald – und dies auf seiner gesamten Fläche – allein deshalb, weil er eben Wald ist; nur schon aufgrund seiner schieren Existenz besitzt er einen unermesslichen Eigenwert.

Zum «Waldsein» braucht der Wald den Menschen nicht

Der Wald an sich ist multifunktional: er erfüllt alle Ökosystemleistungen seit Jahrtausenden ohne jedes menschliche Zutun. Wir wissen allerdings: Ein einzelner Waldbestand kann nicht eine maximale Biodiversitätsleistung und gleichzeitig einen maximalen Holzertrag erbringen. Der Mensch aber stellt an einzelne Waldbestände gerade solche, lokal spezifische Leistungserwartungen, die über das normale «Waldsein», also das als normal eingeschätzte Leistungsvermögen hinausgehen.

Waldpflege kann spezifische Ökosystemleistungen lokal fördern

Um über das normale Waldsein hinausgehende Leistungsanforderungen nachhaltig befriedigen zu können, wurde der Liechtensteiner Wald bezüglich solcher lokalspezifischer Leistungserwartungen kategorisiert: als Resultat liegt eine Waldfunktionenkartierung vor, die unter Einbezug aller relevanter Stakeholder auf der Basis aller einschlägiger Grundlagenkenntnisse erarbeitet wurde. Alle Waldbesitzer haben die Waldfunktionenkartierung als Gesamtes gutgeheissen und mit Verordnung hat die Regierung diese als Handlungsrichtlinie für den Umgang mit dem Wald beschlossen.

Bezogen auf den «Normalwald», gemäss LWI-Bericht 2012 mit 5554 Hektar (ha), zeichnen sich Waldbestände mit ausgewiesener Vorrangfunktion dadurch aus, dass – im Entscheidungsfalle für ein Tun oder Unterlassen – die ihnen zuerkannte Vorrangfunktion gegenüber allen übrigen Waldwirkungen stärker zu gewichten ist. 

Deren Anteile betragen:

  • 10 % Schutzwirkung für Menschenleben und erhebliche Sachwerte
  • 18 % Biodiversitäts-, Landschafts- und 
  • Naturschutzwirkungen
  • 25 % Holzproduktion
  • 1 %Erholungswirkungen.

Alle übrigen Waldbestände ohne speziell zugewiesene Vorrangfunktion sind einfach Wälder – sich auszeichnend durch ihren jeweiligen Eigenwert und ihre allgemeinen Ökosystemleistungen.

Naturnahe Waldwirtschaft besteht aus Tun und Unterlassen

Das moderne Waldgesetz 1991 bricht das mit der Waldordnung 1865 geförderte Primat der Holzproduktion; es fordert dagegen unmissverständlich: «Der Wald ist so zu erhalten, dass er seine Funktionen dauernd, uneingeschränkt und nachhaltig erfüllen kann».

Gefordert ist heute eine Umkehr von der auf die Holzproduktion fixierten «Forstwirtschaft» zu einer auf die Erbringung aller Ökosystemleistungen fokussierten, naturnahen «Waldwirtschaft» – einer Waldwirtschaft nämlich, bei der alle Ökosystemleistungen auf der gleichen Ebene stehen, die mit Tun und Unterlassen den Erfordernissen des naturnahen Waldbaus nachlebt, den Belangen des Natur- und Landschaftsschutzes Rechnung trägt sowie die Lebensräume und Lebensbedingungen der wildwachsenden Pflanzen und wildlebenden Tiere sichert.

Nachhaltige Ökosystemleistungen ohne konkrete Betriebs- und waldbauliche Planung gibt es nicht

1960 wurden in den damaligen 2237 ha «Wirtschaftswald» 9427 Kubikmeter (m3) Holz geschlagen, wovon 48 % als Energieholz genutzt wurden; damals, als wir auch auf dem Holzherd kochten, mit Holz heizten und auf den Gebrauch von Holz als Energiequelle noch stark angewiesen waren. Die nachhaltige, jährliche Holznutzungsmenge war für die öffentlichen Waldeigentümer jeweils in einem alle 10 Jahre von der Regierung genehmigten, jeweils neu erarbeiteten, auf Inventurdaten basierenden und die einzelnen Waldbestände beschreibenden Planungsinstrument festgelegt, dem «Wirtschaftsplan».

Dagegen kommt heute – trotz eindeutiger Vorgaben des Waldgesetzes – kein Planungsinstrument zur Anwendung, welches die nachhaltige Holznutzungsmenge festlegen würde. Gerade mit Blick auf ein angemessenes Tun und Unterlassen hinsichtlich der Förderung der Ökosystemleistungen wäre dies das A und O einer zeitgemässen, zielorientierten, effektiven und effizienten Waldwirtschaft. Was dabei das Schlimmste ist: Es gibt auch keine Planungsgrundlage, welche sicherstellt, dass den Prämissen eines ökologischen, naturnahen Waldbaus Rechnung getragen wird oder an welcher die Zweckmässigkeit, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit sowie die Nachhaltigkeit erfolgter Eingriffe überprüft werden könnte.

Die Forstwirtschaft ist auf dem Holzweg

Der LWI-Bericht 2012 hält fest: «Der Holzzuwachs hängt von Faktoren wie Höhenlage, Klima oder Bodenverhältnisse ab. Je rauer die Verhältnisse, umso langsamer das Wachstum; zwischen 1998 und 2010 sind jährlich rund 38 500 m3
Holz nachgewachsen». Maximal 3000 ha beträgt heute die Waldfläche, die – bei grosszügiger Auslegung – für eine nachhaltige Holznutzung zur Verfügung steht:

  • Auf 20 024 m3 steigerte sich die Holznutzung im Jahre 1990 – bei einem Energieholzanteil von damals lediglich 21 %; noch in die Periode 2008–2012 pendelte die Nutzungsmenge um durchschnittlich 21 000 m3;
  • im Verlauf der letzten 10 Jahre aber erhöhte sich die Holznutzung weiter auf durchschnittlich 24 154.5 m3/Jahr: 6186 m3 Stammholz und 17 931 m3 Energieholz, davon 10 139 m3 Hackschnitzel und seit 2014 durchschnittlich 3624 m3 Ast- und Kronenmaterial;
  • unverantwortbare 29 076 m3 Holz wurden 2019 geschlagen – und diese wurden zu 69 % als vermeintlich klimaneutrales Energieholz genutzt oder zutreffender gesagt: verbrannt.

Diese Holznutzungen spielen sich auf nur etwa der Hälfte der Gesamtwaldfläche ab: dort stünden aber max. 18 000–19 000 m3/Jahr für eine Holznutzung zur Verfügung. Diese Hälfte der Wälder wird seit Jahren fern jeder Nachhaltigkeit gegen alle Grundsätze und Vorschriften des Waldgesetzes geradezu geplündert – auf Kosten des Steuerzahlers und dabei zum Schaden der Ökosystemleistungen; besonders betroffen davon sind:

  • bisher im Wald belassenes, für die Bodenbildungsprozesse, den Wasserhaushalt sowie die bodennahe Flora und Fauna unersetzliches Ast- und Kronenmaterial;
  • naturnahe, stabile und gesunde, bisher sich selbst überlassene und weitgehend unberührte Bergwaldökosysteme einschliesslich unersetzlicher Waldreservate;
  • die Biodiversitäts- und Klimaleistungen des Waldes: weniger Holzeinschlag und damit Bäume älter werden zu lassen bedeutet mehr Biomasseakkumulation und damit eine höhere Klimaschutzwirkung; zusammen mit stehendem und liegendem Totholz bedeutet dies auch mehr Biodiversität und Sicherung der Rückzugslebensräume von Pflanzen- und Tierarten.

Holz wird verbrannt – ein Irrweg in Liechtenstein wie am Amazonas

Was für ein Umgang mit dem wertvollen Rohstoff Holz – einem der wenigen, den wir neben dem Wasser haben! Dabei ist die direkte energetische Nutzung an und für sich vielfältig weiter verarbeitbarer Holzsortimente die wohl primitivste Art der Rohstoffverwertung:

  • Noch vor wenigen Jahrzehnten war es für jeden Waldverantwortlichen eine Ehrensache, in «seinem» Wald im Verlauf seines Wirkens den stehenden Holzvorrat zu äufnen;
  • noch vor wenigen Jahrzehnten war es für jeden Waldverantwortlichen auch eine Ehrensache, mindestens 70 % des genutzten Holzes als Sägerundholz zu verkaufen – und dies ist, wie die entsprechenden Jahresberichte ausweisen, tatsächlich auch meist gelungen.

«Wieviel Holz brauchen wir – und das werden wir dann liefern» – ein Slogan zum Vergessen

Mit diesem Slogan aber feiert eine «Forstwirtschaft» wieder Urständ, welche man seit den 1960er-Jahren sowie der mit dem Waldgesetz 1991 eingeforderten Fokussierung auf eine naturnahe «Waldwirtschaft» abgelöst glaubte. Mit der erneuten Fixierung auf die Holzproduktion wird der biblische Ausspruch des «mache dir die Erde untertan» von Waldverantwortlich auf Kosten der Ökosystemleistungen unverantwortlich wörtlich interpretiert: Waldbäume mit einer Lebensdauer von mindestens 100 bis mehreren Hundert Jahren lassen sich nun einmal nicht wie Krautköpfe im Jahreszyklus produzieren.

Wo Nachhaltigkeit aller Waldleistungen nur in Kubikmetern gemessen wird, bleibt verbrannte Erde zurück: instabile und schadenanfällige Forste, verarmte Pflanzen- und Tiergemeinschaften sowie ausgelaugte Böden.

Mit der Erfindung des «Schutzwaldes» und überbewerteten Wildschäden versuchen die gleichen Waldbesitzer davon abzulenken, dass sie aufgrund geänderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und nun nachgefragter Ökosystemleistungen ihren Leistungsauftrag schon längst neu definieren müssten, mit der Folge, ihre organisatorische, personelle und mit Steuergeldern finanzierte Überdotierung drastisch reduzieren zu müssen. Wo Nachhaltigkeit aller Waldleistungen nur in Kubikmetern gemessen wird, bleibt verbrannte Erde zurück: instabile und schadenanfällige Forste, verarmte Pflanzen- und Tiergemeinschaften sowie ausgelaugte Böden. Und gerade die Rolle des Waldbodens als sauberer und bisher von Chemikalien verschonter Wasserspeicher kann angesichts von Streitfällen bis zu Krieg, die auf der Welt heute schon ums Wasser geführt werden, nicht hoch genug eingeschätzt werden.

«Welchen Wald brauchen wir und wieviel Holznutzung können wir uns erlauben, ohne dabei die Ökosystemleistungen zu beeinträchtigen»: der Slogan einer nachhaltigen Zukunft

Das Waldgesetz 1991 weist den Weg: die auf Holzproduktion fixierte «Forstwirtschaft» ist in eine ökologische, naturnahe «Waldwirtschaft» zu überführen; nicht Holzfäller sondern ökologisch geerdete Waldbauer braucht der Wald. Ein naturnaher Waldbau bringt den Wald der berühmten «eierlegenden Wollmilchsau» nahe – aber nur dann, wenn man die Bäume auch dort, wo eine Holznutzung stattfindet, alt werden lässt, und sie dort, wo bisher weitgehend unberührte, sich selbst erhaltende Wälder sind, weiterhin unberührt lässt.

Fast alle heute nachgefragten Ökosystemleistungen kann der Wald ohne spezifische Pflegemassnahmen erbringen; auch zur Förderung seines Beitrags zum Schutz von Menschenleben und erheblichen Sachwerten sind nur auf einem Teil dieser Flächen Massnahmen angezeigt: verzwickt nur, dass die «Forstwirtschaft» von heute organisatorisch, personell und finanziell gegenüber Nachbarregionen um mindestens das Vier- bis Achtfache aufgebläht ist – zum langfristig irreversiblen Schaden an den Ökosystemleistungen.

Notwendig dazu ist eine Finanzstruktur, welche sowohl Abgeltungen für die Erbringung gesetzlich vorgeschriebener, aber vielfach nur beschränkt marktfähiger Leistungen als auch Förderungen für die Strukturerhaltung vorsieht.

Zukunftsfähig ist eine «Waldwirtschaft», welche Ökosystemleistungen nachfragegerecht, effizient sowie hinsichtlich des Leistungsumfanges nachvollziehbar zu erbringen und den Nutzniessern diese Leistungen mit objektivem Leistungsausweis und einem sich gleichzeitig anfügenden Aufwands-/Ertragsausweis vorzulegen vermag. Notwendig dazu ist eine Finanzstruktur, welche sowohl Abgeltungen für die Erbringung gesetzlich vorgeschriebener, aber vielfach nur beschränkt marktfähiger Leistungen als auch Förderungen für die Strukturerhaltung vorsieht. Fällt bei Massnahmen zur Förderung von Ökosystemleistungen Holz an, ist dessen Erlös als Deckungsbeitrag an die Produktion von Ökosystemleistungen zu verstehen.

Das Waldgesetz erfordert von den Waldverantwortlichen den längst fälligen und schmerzvollen Kraftakt, vergleichbar demjenigen, wie ihn die Jäger lange Jahre ertragen mussten: so lange nämlich, bis die Umsetzung der in verschiedenen Gutachten geforderten Massnahmen zur Erreichung der im Jagdgesetz festgelegten Ziele weitgehend erfolgt war. Ungeachtet ihres vorrangigen Motivs, nämlich weiter auf Wild jagen zu können, gilt es anzuerkennen, dass sie damit Wesentliches zur Verbesserung des Waldlebensraumes beitrugen. Die Waldverantwortlichen sind gefordert, denn noch sind die Jäger die besseren Grünen.

Dr. Felix Näscher, 1950, Dipl. Forstingenieur ETH Zürich, 1975 Diplom am Institut für Waldbau mit einer Arbeit über den Liechtensteiner Auenwald, 1979 Doktorat am Institut für Waldbau und am Lehrstuhl für Wild- und Jagdkunde mit einer Arbeit über die waldbauliche Bedeutung des Rothirschverbisses im subalpinen Fichtenwald, 1980–2012 ehemaliges Landesforstamt/Amt für Wald, Natur und Landschaft: Leitender Mitarbeiter mit den Schwerpunkten Wald, Wildtiere und Jagd, Naturschutz, integrale Berggebietssanierung, nachhaltige Entwicklungs- und Umweltpolitik.