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60Plus | Interview | März, 2025
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«Der Mensch hat das Bedürfnis, sich zu ver-rücken»

von Gabi Eberle

Als Psychiater und Psychotherapeut bereist Professor Dr. med. Reinhard Haller das weite Land der Seele, das ihn von Kindheit an fasziniert. Seit Beendigung seiner über 30 Jahre dauernden Chefarztaufgabe am Krankenhaus Maria Ebene in Frastanz ist der gebürtige Bregenzerwälder als therapeutischer Berater, Referent, Vortragender und Sachbuchautor tätig. Er gehört zu den renommiertesten Gerichtsgutachtern Europas, verfasste u. a. ein Gutachten über den Sexualmörder Jack Unterweger. Im Gespräch, gefühlt so spannend wie ein Krimi, erörtert Reinhard Haller unter anderem, wodurch sich ein Mörder von einem Töter unterscheidet, ob der menschliche Wille wirklich frei ist und wozu Kränkungen führen können.

Herr Haller, Sie waren über 30 Jahre Chefarzt am Krankenhaus Maria Ebene, sind Psychiater und Psychotherapeut. Wird man da nicht irgendwann selbst verrückt?

Reinhard Haller: Man sagt ja, dass Menschen, die selbst psychische Probleme haben, den Beruf des Psychiaters wählen, nach dem Motto «Man muss den Bock zum Gärtner machen». Ich hoffe nicht, dass das bei mir der Fall ist (schmunzelt). Nein, ich glaube nicht, dass man sich durch den Umgang mit psychisch gestörten Menschen quasi selbst ansteckt. Natürlich ist es ein belastender Beruf, aber gleichzeitig ein hochinteressanter. Mich hat die Seele, das Unbekannte, Geheimnisvolle stets mehr interessiert als der Körper. Menschliche Schicksale und Verhaltensweisen wecken bis heute meine Neugierde.

In welchem Umfeld sind Sie aufgewachsen?

Ich stamme aus dem hinteren Bregenzerwald, bin also ein Hinterwäldler, aufgewachsen in einem bescheidenen, aber sehr sonnigen, warmen Elternhaus, hatte eine sehr schöne Kindheit. Als Jüngstem von vier Kindern wurde mir, eher scherzhaft, nachgesagt, die Neigung zu Sucht, Delinquenz etc. zu haben. Das habe ich dann nachgeforscht und natürlich widerlegt (schmunzelt): Am Gefährdetsten sind die Zweitjüngsten …

Ist der Charakter eines Menschen schon bei Geburt festgelegt oder lässt sich daran feilen?

Was Anlage, sprich in den Genen verankert ist, und was durch Umwelt, Erziehung, soziale Kontakte etc. im Laufe des Lebens entsteht, ist eine nach wie vor umstrittene, nicht entschiedene Frage. Ich denke, bestimmte Dinge wie das Temperament, Extrovertiert- oder Introvertiertheit sind Veranlagung. Alles andere kann man letztlich durch Erziehung, emphatisches Verhalten usw. im Menschen formen. Beim Charakter lässt sich bis um das 20. Lebensjahr herum vieles bewirken. Auch die heute ja nicht mehr so moderne Vorbildhaltung ist zu berücksichtigen, gemäss dem Sprichwort: «Wir können unsere Kinder erziehen, wie wir wollen, sie werden uns trotzdem nachahmen.» Andererseits gibt es schon auch charakterliche Extremformen, die auch therapeutisch sehr schwer anzugehen sind.

Der reichste Mann der Welt, Elon Musk, behauptet ja von sich, verrückt zu sein, eine Autismusstörung zu haben und nur darum so erfolgreich geworden zu sein.

Einer Ihrer Youtube-Beiträge von 2024 trägt den Titel «Leben in verrückten Zeiten». Sind sie wirklich verrückter als noch vor 20, 30 Jahren?

Obwohl es verrückt ist, dass man heute als Vortragender bei den 72 Geschlechtsidentitäten, die es zwischenzeitlich gibt, nicht mehr weiss, welche Ansprache man verwenden darf, widerlege ich diese These. Der Begriff Verrücktheit hat mir immer sehr gut gefallen, habe diesen nicht immer nur pathologisch gesehen. Ver-rückt, herausgerückt aus der Normalität zu sein, kann durchaus positiv sein. Der reichste Mann der Welt, Elon Musk, behauptet ja von sich, verrückt zu sein, eine Autismusstörung zu haben und nur darum so erfolgreich geworden zu sein. Verrückte Ideen bringen natürlich die Zeit voran. Genialität und Wahnsinn liegen oft nahe beieinander. Selbstverständlich kann die Verrücktheit auch krankhaft sein, wie sie bei Wahnideen, Stimmenhören und so weiter vorkommt. Wenn man die Zeit analysiert, hat unsere Generation das Glück gehabt, in einer friedlichen, normalen Welt, ohne Krieg, bis Corona ohne Seuchen oder Hungersnöte gelebt zu haben. Meine These ist: Die eigentlich verrückte Zeit war eben diese gute Phase. Nun ist traurigerweise wieder die Normalität eingekehrt, die leider der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht. Es gibt wieder Kriege, Seuchen, die Leute streiten …

Ab und zu verrückt zu sein, ist ja per se nicht das Schlechteste.

So ist es. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich zu ver-rücken, weil man die Normalität des Alltags nicht immer aushält, ihr entfliehen will. Das beginnt in harmloser Form mit Tagträumen, etwas häufiger und manchmal in nicht so harmloser Form, indem man sich mit Alkohol, Drogen oder gefährlichen Abenteuern berauscht. Der Ausdruck «Extase» heisst ja Heraustreten. Für eine Zeit lang verrückt zu sein und ist nichts Schlechtes, wenn man schaut, letztendlich die Kontrolle zu behalten. Gelingt dies nicht, bezahlt man mitunter einen hohen Preis dafür.

Ist die Seele des Menschen unergründlich oder doch nicht?

Wir unterscheiden zwischen Körper, Psyche und Seele. Der Körper ist sehr gut erforscht. Bei der Psyche ist es schon schwieriger. Ob sie sich voll erfassen lässt, geht immer mit der Frage einher, ob sich das menschliche Gehirn selbst begreifen kann. Ich glaube, dass die Seele Gott sei Dank etwas Geheimnisvolles und deshalb niemals ganz Erforschbares ist, wo all unsere naturwissenschaftlichen Methoden an ihre Grenzen stossen. Letztlich setzen da der Glaube und Spiritualität ein. So bleibt ein Mysterium gewahrt, was für den Menschen auch gut ist.

Glauben Sie an den Zufall und: Gibt es so etwas wie Schicksal?

Diese Frage lässt sich nicht wirklich beantworten. Ich denke aber schon, dass es Zufall gibt. Ebenso umstritten und bis heute nicht wirklich gelöst ist die Frage, ob der menschliche Wille wirklich frei ist oder nicht, ob wir beeinflussen können, wie unser Leben verläuft, oder ob das festgelegt, vorherbestimmt ist. Theologie, Philosophie, Psychologie haben ganz unterschiedliche Meinungen dazu. Die Hirnforschung ist sich nicht wirklich sicher, dass unser menschlicher Wille frei ist. Ich selbst bin schon der Meinung, dass der Mensch frei entscheiden kann. Der naturwissenschaftliche Beweis dafür ist jedoch noch nicht erbracht.

Es scheint, dass die Gesellschaft zunehmend verroht. Die Ethik als philosophische Disziplin hat einen schweren Stand. Was meinen Sie?

Ich glaube schon, dass in unserer Gesellschaft die Empathie aus verschiedenen Gründen verloren gegangen ist. Der 2018 verstorbene Astrophysiker im Rollstuhl, Stephen Hawking, sagte: «Wenn wir die Empathie nicht retten können, wird die Menschheit zugrunde gehen.» Der zweite wesentliche Grund: Der Mensch trägt ein hohes Aggressionspotenzial in sich; im Prinzip den Vitaltrieb, der menschliches Verhalten steuert – die positive Form des Aggressionstriebs. Dieser wurde früher natürlich verarbeitet: Man musste heuen, holzen, Kohlesäcke tragen, körperliche Arbeit leisten, die heute nicht mehr erforderlich ist. Die heutigen Berufe sind fast alle sitzend, bewegungsarm. So staut sich das hohe Mass an Aggressivität an, das in uns allen schlummert – vergleichbar mit einem Dampfkochtopf. Aggressionshandlungen, Körperverletzungen, Bandenkriminalität, in der digitalen Kommunikationsform der Hass im Internet haben zugenommen, dienen als Puffer, sind aber natürlich die falsche Art der Umsetzung, Aggression loszuwerden. Ein richtiger Gegenpool wäre z. B. Sport, der derzeit glücklicherweise grossen Aufschwung erlebt.

Ein Verbrecher hat viele Eigenschaften, die wir mühsam lernen müssen, in sich: Er ist sehr intuitiv, kann Menschen einschätzen, hat eine hohe manipulative Kraft, kann logistisch vorgehen.

Eines Ihrer Bücher trägt den Titel «Die Seele des Verbrechers: Wie Menschen zu Mördern werden». Welche Komponenten müssen vom Gedanken «ich könnte ihn umbringen» bis zur tatsächlichen Tat zusammenkommen?

In meinen Büchern spielen Verbrechen eine wichtige Rolle. Für mich ist es Psychologie pur, weil sich dort all das, was in verdünnter Form in unserem täglichen Leben vorkommt – Neid, Eifersucht, Gier, Gekränktheit, Depressivität – in verdichteter Form abspielt. Ein Verbrecher hat viele Eigenschaften, die wir mühsam lernen müssen, in sich: Er ist sehr intuitiv, kann Menschen einschätzen, hat eine hohe manipulative Kraft, kann logistisch vorgehen. Das Verbrechen selbst ist die Spitze des Eisbergs. Betrachtet man den Begriff Mord als das, was er ist, nämlich ein strafrechtlicher, dann glaube ich nicht, dass jeder zum Mörder werden kann, aber, davon bin ich überzeugt, unter bestimmten Umständen zum Töter: Eine Mutter, die in Notwehr ihr Kind verteidigt, wenn jemand vom Sturm der Gefühle weggefegt wird oder im Vollrausch nicht mehr weiss, was er tut.

In Mitteleuropa spielt sich das Tötungsverbrechen zu 80 % in den eigenen vier Wänden ab. Zur Hauptsache sind es zwischenmenschliche Delikte; mehrheitlich sind die Opfer Frauen. In den Medien wird oft behauptet, dass die Täter Machos mit toxischer Männlichkeit sind. Dies trifft jedoch nur auf 10 bis 15 % der Fälle zu. Die Hintergründe bei Tötungen sind meist Angst vor Liebesentzug, mangelnde Anerkennung bzw. Wertschätzung, was Männer, die mit Kränkung viel schlechter umgehen als Frauen, nach aussen nicht zugeben, aber schwer trifft. So braut sich in ihrem Inneren etwas zusammen, das dann in einer Streitsituation eskaliert und es kommt zur, meist jedoch geplanten, Tötung. Die Reue ist relativ gering. Wenn ich nach einigen Stunden Gespräch mit dem Täter aus dem Gefängnis komme, muss ich mich oft zwicken und fragen: Habe ich jetzt mit dem Täter oder dem Opfer gesprochen? Wichtig ist, dass der Gutachter seine Rolle richtig versteht und sich gut abgrenzt. Er ist nichts anderes als der Gehilfe des Gerichtes, worauf er sich immer besinnen und sich davor hüten muss, ein Urteil zu fällen. Die Entscheidung trifft das Gericht. Er muss in der konkreten Situation nicht einmal das Motiv analysieren, sondern nur feststellen, ob jemand schwer psychisch krank und darum nicht schuldfähig ist oder nicht. Und ob er, wenn nicht zurechnungsfähig, gefährlich ist, verwahrt oder in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden muss.

«Die Macht der Kränkung», ein weiteres Ihrer Bücher, wurde zum Bestseller.

In der Tat ist es das wichtigste meiner Bücher. Natürlich gibt es in der Psychiatrie die tragischen Katastrophen wie Epilepsie, Alzheimer, Schizophrenie etc. Doch bei vielen Menschen sind es nicht diese grossen Krankheiten, sondern die tausend kleinen Stiche, die sie z. B. in die Depression treiben. Kränkungen sind jedem von uns bekannt. Von aussen betrachtet Kleinigkeiten, aber subjektiv können sie die Welt bedeuten und haben durch ihre Summe eine unglaubliche psychologische Kraft. «Was kränkt macht krank», sagte schon Hildegard von Bingen. Verdrängt, nicht angesprochen, entwickeln Kränkungen einen Zermürbungsprozess, der sich fortsetzt und eines Tages durchbricht. Untersuchungen von jugendlichen Schul-Amokläufern haben ergeben, dass diese nicht sonderlich auffallend sind, nicht mehr Drogen oder aggressive Computerspiele konsumieren als andere in ihrem Alter. Oft kommen sie aus sehr guten Familienverhältnissen. Zwei Dinge unterscheiden sie jedoch von anderen: Sie haben Griffnähe zur Waffe und nicht erkannte Kränkung erfahren. Ort der meisten Kränkungen ist die Schule.

In unserer Gesellschaft hat der Narzissmus zugenommen, was wissenschaftlich bewiesen ist. Das Credo «Ich, icher, am ichsten» ist weit verbreitet. Damit einhergehend hat auch die Kränkbarkeit, die Empfindlichkeit, zugenommen. Ein Narzisst ist eben nicht nur grossartig und toll, sondern auch extrem dünnhäutig.

Sie können auch positiv: In «Das Wunder der Wertschätzung» geht es unter anderem darum, wie wir andere stark machen und dabei selbst stärker werden.

Der Titel ist ein wenig kitschig, das gebe ich zu (lacht). Ein deutscher Verlag hat mich damals angefragt, ob ich nicht ein Buch zu diesem Thema schreiben wolle. Sie hätten beobachtet, dass ich bisher viel über «böse Dinge» geschrieben hätte und ob ich den Leuten nichts Positives mitteilen könne. In meinem Herzen bin ich Therapeut und so beschloss ich, das mal auszuprobieren, war aber überzeugt, dass das Buch ein Rohrkrepierer und Ladenhüter in einem werden würde. Das Gegenteil war der Fall: Es ist mein mit Abstand bestverkauftes Buch, was nichts damit zu tun hat, dass es so genial ist, sondern weil jeder Mensch wertgeschätzt werden will und fast alle das Gefühl haben, dies (zu) wenig zu erfahren. Wertschätzung, Liebe, Anerkennung, Respekt ist Positivresonanz und für den Menschen emotionale Muttermilch. Kleinigkeiten, ein Lob zwischendurch, ein aufmunternder Blick, eine zuneigende Geste können in der Wirkung ihrer Summe letztendlich einen grossen Effekt haben.

Sie sind bei Ihnen unbekannten Leuten eingeladen. Setzen Sie sich da hin und durchschauen jeden innert kürzester Zeit?

Nein (lacht). Der Beruf des Psychiaters ist etwas angsteinflössend, weil man eben glaubt, wir können sozusagen mit einem Röntgenblick die Menschen erfassen. Das ist nicht der Fall. Sicher hat man einen gewissen Blick, keine Frage. Trotzdem muss man sich davor hüten, die Menschen von vornherein zu kategorisieren und schauen, dass man stets die Neugierde wachhält. Natürlich ist in meinem Beruf, um auch mal einen Vorteil des Alters zu erwähnen (schmunzelt), die Erfahrung schon sehr wichtig.

Die Waage, Ihr Sternzeichen, hat eine lebensfrohe Kunst, ist friedliebend, hat den Drang, Informationen auszutauschen, die Welt um sich herum besser zu verstehen. Das passt, oder?

Ich bin kein Spezialist in diesem Bereich, aber glaube schon, dass es da einen Einfluss auf das Gemüt und Ähnliches gibt. Dass ich eher ein wenig empfindlicher, schüchterner, aber vor allem sehr friedliebender, auf Ausgleich bedachter Mensch bin, trifft schon zu.

Sie sind 73 Jahre alt, könnten jetzt ja die Füsse hochlegen, es sich in Mallorca oder sonst wo im Süden gemütlich machen …

Zunächst einmal glaube ich, dass ich biologisch und auch psychologisch einiges jünger bin als die Ziffer besagt. Spass beiseite: Ich bin der Meinung, dass man generell länger arbeiten sollte und auch überzeugt, dass dies der beste Faktor gegen das Altern ist. Das Privileg der Pension sollte sein, das arbeiten zu können, was man noch will. Darum werde ich aktiv bleiben – zumindest solange ich allem noch brauchbar und hinreichend gerecht werde. Die Füsse lege ich schon auch gerne hoch, aber nicht hauptberuflich (schmunzelt).