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60Plus | Fokus | März, 2025
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Fürst Hans-Adam II.

von Marcus Büchel

Die Botschaft schlug ein in bewegter Zeit. 1970 stürzte die Maschine von Swissair-Flug 330 infolge eines Bombenattentats in der Schweiz ab, nur eines von vielen Terrorattentaten in aller Welt in diesem Jahr; die RAF verhalf Andreas Baader zur Flucht aus dem Gefängnis; die USA führten den Vietnamkrieg mit aller Brutalität fort; Willy Brandts Kniefall in Warschau war Ausdruck für seine Ostpolitik der Aussöhnung, einem kurzen Zeitfenster der Erhellung, als in der Politik wieder bzw. noch geredet wurde.

Die Hippies faszinierten mit ihren Gegenentwürfen zu der als spiessig gebrandmarkten bürgerlichen Welt. Von der Studentenbewegung der 68er-Generation mochte man lernen, «die Gesellschaft» und überhaupt alles zu kritisieren, den unendlichen Diskurs zu pflegen und die Welt durch die kommunistische Brille zu betrachten. Die grösste Begeisterung in diesem Jahr löste das Erscheinen einer neuen LP aus: «Let it be» von den Beatles.

Als kritischer Gymnasiast war man von der Hippie-Bewegung fasziniert; täglich berechnete man, um wie viele Millimeter die Haarlänge wieder zugenommen hatte; als Spätepigone der 68er war man von einer Passion zum Marxismus erfasst.

Ich war damals in einem katholischen Internat in Schwyz, mit 17 «selbstverständlich» politisiert. Wir Liechtensteiner, interniert «hinter den sieben Bergen», wussten einiges über die Heimat vermittels «Vaterland» und «Volksblatt»; beide Landesblätter erhielt jeder Schüler und Student an seinem Studienort im Ausland gratis, obendrein automatisch, ohne sie bestellt haben zu müssen.

Hans-Adam sprach uns aus der Seele. Gerade uns, die wir in der Schweiz weilten, konnte es nicht entgehen, in welch servile Abhängigkeit von unserem Gastland sich unser Land begeben hatte.

In diese Situation platzte die Rucksack-Rede des 25-jährigen Erbprinzen. Hans-Adam sprach uns aus der Seele. Gerade uns, die wir in der Schweiz weilten, konnte es nicht entgehen, in welch servile Abhängigkeit von unserem Gastland sich unser Land begeben hatte. Kaum eine Entscheidung wurde eigenständig getroffen; ängstlich wurde darauf Bedacht genommen, nur ja keine Abweichung von schweizerischen Regularien zuzulassen. Ein Land am Gängelband.

Für uns in der Spätpubertät stehenden, nach Emanzipation strebenden jungen Menschen waren Abhängigkeiten ein Gräuel. Das politische Liechtenstein erschien uns als ängstlicher Antiheld, mit dem man sich schwerlich identifizieren mochte. Von den Kameraden gehänselt; wenn überhaupt, sprachen sie für uns hochnotpeinlich im Unterton von Kolonialherren 1 über Liechtenstein: Ihr seid ja nichts ohne die Schweiz!

Der junge Erbprinz hat für seine Rede eine geniale Metapher geschaffen: Ein Kleinkind, das sicher und geborgen im Rucksack des Vaters sitzt; es ist vollständig davon abhängig, wohin sein Vater seine Schritte lenkt und wie schnell er sich bewegt – das Bild einer infantilen Abhängigkeitsbeziehung.

Es ist psychologisch bemerkenswert, dass die Rede in der medialen Rezeption als «provokant» dargestellt wurde (und wird) 2. Allein schon der Befund, wonach sie ein Land wie ein im Rucksack thronendes Kind aufführt, d. h. die Benennung der Abhängigkeit, muss als Tabubruch empfunden worden sein.

Darob folgte noch die Aufforderung, diesen infantilen Zustand zu verlassen, sich zu verselbständigen, sich zu emanzipieren. Es ist schon verständlich, dass jemand, von dem erwartet wird, erwachsen zu sein, in Tat und Wahrheit aber noch in infantiler Abhängigkeit steht, sich ertappt und blossgestellt fühlt.

Die Art der Reaktion, das Sich-provoziert-Fühlen, belegt die Richtigkeit der Diagnose, die da lautet: massives Abhängigkeitssyndrom, ebenso wie die Notwendigkeit der Therapie: die Ablösung. Die Rede sollte ja etwas hervorrufen (pro-vocare), nämlich einerseits Selbsterkenntnis und andererseits einen Handlungsimpuls setzen. Und es verhält sich im Grossen wie in der Entwicklungspsychologie: Ohne Lösung der Bindung zu den Eltern kann es kein Erwachsenwerden geben – ein mühsamer, mitunter schmerzhafter Prozess. Andererseits winken Individualität und Freiheit als Lohn.

Mit einem Liechtenstein dieses Zuschnitts konnten und wollten wir uns sehr wohl identifizieren.

Uns Schülern, die wir uns ja auch in der Ablösungsarbeit befanden, sprach der Erbprinz aus dem Herzen: Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstständigkeit, das betraf uns selbst. Übersetzt auf das Land lautete die Botschaft: Wir sind wer, wir können selbstbestimmt entscheiden, autonom handeln. Mit einem Liechtenstein dieses Zuschnitts konnten und wollten wir uns sehr wohl identifizieren. Hans-Adams Rucksack-Rede wirkte wie Balsam auf unsere Seelen, war Nahrung für unsere Hoffnung auf eine Entwicklung unseres Landes in diese Richtung – und stärkte unser Selbstwertgefühl.

Nicht nur wir Halbwüchsige waren von der Idee der Freiheit begeistert. Die Befreiung aus jedweder Abhängigkeit entsprach dem Zeitgeist. Die Kolonien wollten in die Unabhängigkeit entlassen werden. Die Auflehnung gegen Autoritäten war im «Westen» Programm. Die Studenten strebten nach Unabhängigkeit von ihren Eltern und Professoren, die Erziehung sollte antiautoritär 3 sein. Der «herrschaftsfreie»4 Diskurs (Jürgen Habermas) war das Gebot der Stunde.

Mit Jahrgang 1945 passte Hans-Adam altersmässig in die Kohorte der 68er-Bewegung. Die Universitäten waren Aktionsfeld und Agitationsraum für die Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen. Ob man wollte oder nicht: Der durchdringende ideologische Diskurs der Studentenbewegung liess niemanden unberührt.

Der Thronfolger war jung, erst Mitte 20. Er war kein Repräsentant der als konservativ 5 geltenden Elterngeneration, sondern einer aus der eigenen Altersgruppe, erschien quasi als älterer Bruder, dem man noch einiges mehr als sich selbst zutraute, zu dem man mit verhohlener Bewunderung aufschaute, in der damals modischen Attitüde lässigen Gleichmuts. Man verspürte bei ihm etwas «Revoluzzerhaftes»: Ein Mann, der Klartext redete uns sich traute, den Älteren die Leviten zu lesen.

Die erschreckte Reaktion der etablierten Bürger – Establishment hiess das damals – wurde als Beweis dafür gedeutet, dass der Stich sass, die Eiterbeule aus bequemer Ängstlichkeit angestochen war. Hans-Adam hatte für uns Junge etwas Vorbildhaftes; in einem grösseren, weniger zurückhaltenden Kontext als dem Alemannischen wäre er möglicherweise ein ikonenhaftes Vorbild, ja Held geworden, dessen Konterfei auf T-Shirts aufgedruckt worden wäre. Dass er selbst jung war, war ein entscheidendes Merkmal. Das hatte etwas Verbindendes.

Es geht hier nicht darum, den Einfluss der 68er-Bewegung auf Hans-Adam zu untersuchen, vielmehr um dessen Wahrnehmung durch die junge Generation unseres Landes, vornehmlich der Intellektuellen, Studenten und politisch Engagierten, die von den Erwartungen auf Veränderung, Fortschritt bewegt wurden. Die Rucksack-Rede erfüllte die Erwartungen nach Aufbruch, auf Fortschritt und Emanzipation ganz offensichtlich.

Es waren aber nicht nur die Jungen. Arno Waschkuhn, Politologe am Liechtenstein-Institut, erkannte, dass Hans-Adam als künftiges Staatsoberhaupt «ein Hoffnungsträger für fundamentale Weichenstellungen» werden könne.

Es blieb bekanntlich nicht bei der Ankündigung. Hans-Adam liess den Worten Taten folgen. Bereits ein Jahr nach seiner Inthronisierung als Landesfürst erreichte er sein erstes grosses aussenpolitische Ziel: Liechtenstein wurde 1990 in der UNO als Mitgliedstaat aufgenommen, womit die Souveränität unseres Landes erstmals weltweit Anerkennung erlangte 7.

Man kann es aber auch so deuten, dass hier die Idee einer autonomen Entscheidung für den Fürsten die Leitidee war: Bedient euch eures eigenen Verstandes und handelt nach euren Interessen, ohne auf die Schweiz zu schielen!

Der nächste Schritt war der EWR-Beitritt. Es wird meist so argumentiert, dass die Forderung des Fürsten, die Abstimmung vor der in der Schweiz ansetzen zu lassen 8, von seinem Kalkül ausging, dass im Fall eines Schweizer Nein kaum damit zu rechnen gewesen wäre, dass die Liechtensteiner anders abstimmen würden. Man kann es aber auch so deuten, dass hier die Idee einer autonomen Entscheidung für den Fürsten die Leitidee war: Bedient euch eures eigenen Verstandes und handelt nach euren Interessen, ohne auf die Schweiz zu schielen! Im Grunde wäre diese Interpretation als ein emanzipatorischer Imperativ an die eigene Bevölkerung zu verstehen. Dass sich dann zur grossen Überraschung die Liechtensteiner Stimmbürgerinnen und Stimmbürger am 11./13. Dezember 1992 trotz des Nein in der Schweiz für den EWR-Beitritt aussprachen, war dann in der Tat Ausdruck autonomer, eigenständiger Entscheidungsfähigkeit.

Die Identität wird sowohl im personalen als auch im nationalen Sinn durch innere und äussere Faktoren bestimmt. Es wird die Eigenstaatlichkeit insbesondere 9 durch die UNO- und ERW-Mitgliedschaft von niemandem mehr infrage gestellt. Die internationale Anerkennung unseres Staates hat gewiss dazu beigetragen, früher vorhandene Unsicherheiten und Ambivalenzen abzubauen. Die Identifizierung mit dem Land wird dadurch erleichtert und die nationale Identität ist gestärkt worden.

Durch die Verlegung der Residenz nach Vaduz von Fürst Franz Josef II. kam es zu einer Änderung des «Ortes der Kontrolle», wandelte sich die Aussen- zu einer Binnensteuerung. Mit Hans-Adam II. wuchs der erste Fürst im Land auf; er wurde hier sozialisiert, d. h. er wird als «einer von hier», als «ein eigener» wahrgenommen. Beides sind Bewegungen nach innen, Bewegungen, die für die staatsbürgerliche Identitätsbildung von Bedeutung sind.

Wenn wir davon ausgehen, dass staatsbürgerliches Bewusstsein durch innere als auch äussere Faktoren beeinflusst wird, so ist unserem Fürsten Wesentliches zu verdanken: Hans-Adam hat durch die globale Absicherung der Souveränität durch die von ihm initiierte und forcierte UNO- und EWR-Mitgliedschaft zur nationalen Identität beigetragen. Durch seine Sozialisation in Liechtenstein, seine hochbedeutenden Taten als Staatsoberhaupt, seine Volksverbundenheit ist er als Mensch konkret (an-)fassbar und wichtigste Person für die Identitätsbildung.

1 Die Jungen lebten da offenbar kolonialistische Fantasien so manches gesetzten Schweizers aus. Die NZZ führt noch heute ihre Artikel über Liechtenstein, wie selbstverständlich, unter der Rubrik «Schweiz» auf. (vgl. Fussnote 2)
2 Provokateur, Pragmatiker, Visionär. Günther Meier zum 80. Geburtstag von Fürst Hans Adam in der NZZ vom 14.2.2025 (S. 8)
3 Manche Leser werden sich an A.S. Neills Bestseller: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung, mit der Summerhill-Schule als Lehrbeispiel erinnern.
4 Das Ideal der deliberativen Demokratie ist der herrschaftsfreie Diskurs. Es gibt keine Hierarchie zwischen den Diskursteilnehmern, alle haben die gleiche Möglichkeit, ihren Standpunkt zu Gehör zu bringen und zu begründen, niemand wird zum Schweigen gebracht, niemand beansprucht für sich die Diskurshoheit.
5 «reaktionär» hiess das damals. «Trau keinem über 30» lautete ein populärer Slogan der 68er-Bewegung.
6 Zit. nach Günther Meier (s. Fussnote 1)
7 Zur Erinnerung: Der Völkerbund lehnte das Aufnahmegesuch Liechtensteins am 17.12.1920 mit 28 Neinstimmen zur einzigen Jastimme von Seiten der Schweiz ab. (Quelle: Susanna Biland, «Völkerbund», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), abgerufen am 15.2.2025).
8 Die Auseinandersetzung um das «Davor» oder «Danach» führte zur sog. Staatskrise. Wilfried Marxer, «Staatskrise (28.10.1992)». In: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, abgerufen am 15.2.2025.
9 Liechtenstein war vorher bereits Mitglied in internationalen Organisationen: der Europarat und die OSZE
(Partizipation an der KSZE-Schlussakte, 1975) sind prominent zu nennen.