Teil 1: Die Anfänge
von Mathias Ospelt
Eigentlich, auch wenn dies in der Bevölkerung vermutlich gar nicht so richtig wahrgenommen wird, verfügt Liechtenstein über eine sehr rege Theaterlandschaft. Und dies nicht erst seit den 70er-Jahren, als das «Theater am Kirchplatz» in Schaan seine Kulturarbeit aufnahm. Die Anfänge gehen erstaunlicherweise viel weiter zurück und dies, ohne ein eigenes Nationaltheater zu besitzen, das sich ausschliesslich mit dem Schauspiel beschäftigt.
Liechtenstein weist ein sehr reiches und buntes Theaterleben im Amateur- oder Laientheaterbereich auf, wobei sich die Laientätigkeit vor allem auf das Schauspiel und weniger auf die Regiearbeit bezieht. Neben Schultheater auf allen Altersstufen, Kinder- und Jugendtheater, Seniorentheater, Vereinstheater, professionellen Theaterprojekten mit Einbezug von Laiendarstellern, gelegentlichen Festspiel- und Freilichttheateraufführungen gehören auch Mischformen, die meistens Musik und Schauspiel miteinander verbinden oder Kabarettproduktionen, sowie reines Musiktheater wie Operette, Musical und Singspiel zu dem breiten Angebot, das Jahr für Jahr die Freundinnen und Freunde der darstellenden Künste erfreut. Das meiste davon ist erst in den vergangenen rund 30 Jahren entstanden, allerdings ist der sogenannte Theatervirus, also die passive wie die aktive Freude am Theater, schon länger verbreitet, nämlich nachweisbar in Liechtenstein seit 163 Jahren!
«Volkstheater in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein» (Zürich 2000), dass sich im Winter 1862 eine Gruppe junger Triesner Arbeiter und Handwerker zu einer Theatergesellschaft zusammenschloss.»
Der kulturelle Aufbruch
Der Vaduzer Historiker Jürgen Schremser erwähnt in seinem Grundlagenwerk zum Laientheater in Liechtenstein, dem Beitrag «Was wird hier gespielt? Zwei Exkurse zum ‹Volkstheater in Liechtenstein›» in dem Buch «volkstheater. Volkstheater in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein» (Zürich 2000), dass sich im Winter 1862 eine Gruppe junger Triesner Arbeiter und Handwerker zu einer Theatergesellschaft zusammenschloss. Diese Gründung, so Schremser, fiel mit «der ersten bürgerlichen Verfassungsgebung des Landes» zusammen. Dies ist insofern bedeutsam, da erst die Verfassung von 1862 die Gründung erster Vereine in Liechtenstein ermöglichte: 1861 der Leseverein in Vaduz und 1862 die oben erwähnte Triesner Theatergesellschaft (1884 folgte Schaan als zweiter Theaterverein). In dem bekannten Schulbuch «Brücken zur Vergangenheit» (Vaduz 1990) schreibt der Autor, der Historiker Paul Vogt, unter dem Titel «Der kulturelle Aufbruch»: «Die Überwindung des Absolutismus und der freiheitliche Geist der Verfassung von 1862 wirkten sich schon bald positiv auf das kulturelle Leben aus. Geistige Kräfte, die bisher verkümmert waren, konnten sich nun entfalten und wirkten sich ihrerseits wieder positiv auf das politische Geschehen aus.» (Kapitel 7. Der politische Aufbruch. 1852–1914. S. 194)
Allerdings, auch dies muss erwähnt sein, profitierte vorerst nur die männliche Bevölkerung von diesen Veränderungen. Frauen blieben noch lange aussen vor. Ebenso die im Land lebenden Ausländer. Wendelin Erni, der Initiator der Triesner Theatergesellschaft, schrieb hierzu in seinen Erinnerungen u. a.: «Ulrich Hanselmann, Färber, war ein Schweizer Protestant, und deswegen zogen wir uns damals schon den Hass vieler auf den Hals. Die Fremden hätten bei uns den Vorzug, hiess es. Der Grund, warum wir den erwähnten Färber in unsere Gesellschaft aufnahmen, war kein anderer als dieser: Erstens weil er als Gesellschafter und interessanter Spassvogel bekannt war, und zweitens war das Färber-Haus, welches er gepachtet hatte und ganz allein bewohnte, das geeignetste Lokal zu unseren Vorübungen. [Die eigentliche Aufführung erfolgte dann im Saal des Gasthauses Adler]» Und später: «Wir hatten bei unserem Stücke, das nun aufgeführt werden sollte [Der verirrte Sohn], zwei Rollen für weibliche Personen, aber eben wieder um der Verleumdung zu entgehen, ersetz[t]en wir diese mit männlichen, wiewohl wir zum voraus wussten, dass wir von sachkundigen Zuschauern getadelt würden, denn es ist bekannt, dass der männliche Schritt und die männliche Haltung im Frauenrocke sich gar übel ausnimmt und wohl eine marketenderartige Person, nie aber ein[e] würdige weibliche Gestalt manierlich dargestellt werden könnte.» (Aus dem vereinfachten Bericht des Wendelin Erni, in: Brücken zur Vergangenheit, S. 196) Der letzte Abschnitt führt uns ins 17. Jahrhundert zurück, als es William Shakespeare 1660 in einem veritablen Skandal erstmals wagte, weibliche Darstellerinnen auf die Bühne zu bringen. In Liechtenstein mahlen die Mühlen etwas langsamer. Selbst im Theater.
«Die Liberalisierung in den 1860er-Jahren weckte das Bedürfnis und öffnete neue Möglichkeiten, an allgemeine Informationen zu gelangen.»
Der Klerus
Die kulturelle Öffnung rief aber schnell einmal auch andere Interessenten auf die Bühne, die gerade die Laien-Theaterkunst schon seit Jahrhunderten für ihre hehren Zwecke zu nutzen wussten: den katholischen Klerus, ein, wie Schremser meint, «prägender Kulturträger in Liechtenstein». Zumindest bis in die 1960er-Jahre. Er schreibt hierzu: «Die Liberalisierung in den 1860er-Jahren weckte das Bedürfnis und öffnete neue Möglichkeiten, an allgemeine Informationen zu gelangen. Für die Landeskirche, die praktisch die Schulorganisation beherrschte, bot sich im Theaterspiel ein zusätzliches Medium jenen Informationsfluss im katechetischen Sinne zu steuern.» In der Tat nahmen in den folgenden Jahren Priester und Ordensschwestern das Bühnen-Szepter in die Hand und organisierten ausschliesslich geistliche Theateraufführungen. So u. a. im Institut Gutenberg, wo seit 1874 unter der Leitung der Paderborner Schwestern Theaterstücke aufgeführt wurden, oder in Bendern-Gamprin, wo der Kaplan Franz Xaver Häusle 1880 ein selbstverfasstes Hirtenspiel inszenierte.
Republikanischer Einfluss?
In der Folge formierten sich aber auch andere, weltlich ausgerichtete Vereine, die die noch junge Theaterlandschaft in Liechtenstein belebten: Jünglingsvereine, aber auch ab Mitte der 1860er-Jahre gegründete Gesangsvereine (1865: Gamprin, 1867: Vaduz, 1868: Eschen usw.) und Musikvereine (1862: Triesen, 1863: Vaduz, 1868: Schaan usw.).
Aus diesen Vereinen heraus entwickelten sich ebenfalls erste Theaterversuche, die sich fast ausschliesslich von der Zeit nach dem Einbringen der Ernten bis vor allem in die Fasnachtszeit hinein mit eigenen Produktionen hervortaten. Vermutlich hatte die Wahl dieser Spielzeit mit der damals noch weit verbreiteten bäuerlichen Arbeit zu tun, die in diesen an sich stillen Monaten ruhte und abendliche Proben zuliess. Ebenfalls ist es sicherlich nicht falsch, wenn sich bei diesen frühen dramatischen Gehversuchen auch ein gewisser Einfluss aus den Dörfern «über dem Rhein» bemerkbar machte.
Gerade die Theatergesellschaft Sargans, die ebenso wie die Theatergesellschaften Azmoos und Buchs ihre Aufführungen in der damals einzigen Landeszeitung, dem «Volksblatt», regelmässig bewarb, war ja bereits 1832 gegründet worden und konnte dadurch auf eine lange Tradition zurückblicken, die zumindest einmal im Liechtensteiner Oberland durchaus stark beachtet worden sein dürfte. Wendelin Erni, der Initiator der Triesner Theatergesellschaft, verweist in seinen Erinnerungen auch explizit auf einen eidgenössischen Einfluss auf die Gründung des ersten Liechtensteiner Theatervereins: «Im Sommer 1862 arbeitete ich in Wallenstadt [sic] und sah dort, Landleute Theaterstücke ohne bedeutenden Kostenaufwand aufführen. Dies belebte dann in mir die Hoffnung, unser Vorhaben durchzuführen.»
Theaterkritik im 19. Jahrhundert
Das «Liechtensteiner Volksblatt» nahm Ende des 19. Jahrhunderts regen Anteil an den ab den 1880er-Jahren immer stärker auftretenden Theaterproduktionen in Liechtenstein und in der benachbarten Schweiz. Einerseits brachten die Inserate gutes Geld, andererseits sorgten die in der Regel per «Eingesandt» veröffentlichten Aufführungsberichte für willkommenes Gratis-Füllmaterial.
Die alte Mühle des Herrn Fehr präsentiert sich ganz majestätisch als Hofschauspielhaus. Und dazu ist sie geeignet, man könnte kaum ein geeigneteres Lokal zu diesem Zwecke finden.
Hierzu zwei Beispiele vom Januar 1897. In der «Volksblatt»-Ausgabe vom 1. Januar 1897 schrieb ein namenloser Autor in einem «Eingesandt»: «Mauren. Die Bretter, welche die Welt bedeuten, spielen derzeit, – man sollte es kaum glauben, auch in Schaanwald eine nicht unbedeutende Rolle. Also ein Theater in Schaanwald? Ja gewiss! Die alte Mühle des Herrn Fehr präsentiert sich ganz majestätisch als Hofschauspielhaus. Und dazu ist sie geeignet, man könnte kaum ein geeigneteres Lokal zu diesem Zwecke finden. Ein saalartiger Raum nach Länge, Breite und Höhe steht da zur Verfügung. Da hinein stellte die Theatergesellschaft, man darf sagen, mit Geschmack und Verständnis eine recht gefällige Bühne und kunstfertige Hände schufen eine recht hübsche Dekoration. […] Gespielt wird ‹Die hl. Philomene›, christliches Schauspiel in drei Akten und einem Lebensbilde mit Musikbeilage, von Dr. Julius Gapp, Pfarrer. […] Die Darstellerinnen machten ihre Sache recht gut, sie hatten sich ziemlich in ihre Rollen eingelebt und waren vortrefflich geschult. Was hiermit zu Ehren der Oberleitung hervorgehoben und zugleich der Dank dafür ausgesprochen sei. […] Hervorgehoben muss werden, dass kein Einziges, obwohl jedes recht viel Text hersagen musste, – auch nur eine Silbe angestossen hatte. Alles ohne Suffleur, ohne irgendeine peinliche Pause.» Zwei Wochen später, am 22. Januar, war Folgendes – ebenfalls als «Eingesandt» zugestellt – in derselben Zeitung zu lesen: «Vom Unterland [sic]. Letzten Sonntag brachte die ‹Theatergesellschaft Schaan› in der ‹Linde› den ‹Goldbauer› zur erstmaligen Aufführung und bei diesem hochwichtigen Ereignisse durfte selbstverständlich meine Persönlichkeit nicht fehlen.
Nun, ich sollte es nicht zu bereuen haben, denn der ‹Goldbauer› ist wirklich ein sehenswertes Stück. […] Dem Stück gemäss, war auch die Aufführung ausgezeichnet. Wie trefflich gelangte nicht das barsche, zornige Wesen des Goldbauern zur Darstellung; mit welch wahrhaft künstlerischer Naturtreue spielte die bekannte ‹Primadonna› des Theaters die bezaubernde Rolle der Vroni und wie lebendig wusste der Darsteller des ‹Falkentoni› diese herrliche Idealgestalt zur Geltung zu bringen. Aber auch alle andern, deren ich hier nicht Erwähnung thun kann, haben ihre Sache gut gemacht. Alle hatten sich förmlich in ihre Rollen eingelebt und auch der Souffleur erwies sich als überflüssig.» Interessant an diesen beiden Berichten sind einerseits die Erwähnungen eines Souffleurs, der dann nicht benötigt wird, andererseits aber auch eine Eigenart der Theater-Berichterstattung, die sich noch weit ins 20. Jahrhundert hineinzog, nämlich das Verschweigen der Namen der Darstellerinnen und Darsteller. Noch bis in die 1950er-Jahre hinein wurden in den Landeszeitungen zwar die dargestellten Figuren beschrieben, nicht aber diejenigen, die Leben in diese Figuren brachten. (wird fortgesetzt)
Quellen:
Liechtensteiner Volksblatt; Schremser, Jürgen: Was wird hier gespielt? Zwei Exkurse zum ‹Volkstheater in Liechtenstein. In: volkstheater. Volkstheater in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein. Zürich 2000; Vogt, Paul: Brücken zur Vergangenheit. Ein Text- und Arbeitsbuch zur liechtensteinischen Geschichte. 17. bis 19. Jahrhundert. Vaduz 1990.