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60Plus | Fokus | März, 2024
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Wingertmauern – gestern. Und heute?

von Mathias Ospelt

«Viele [alte Trockenmauern] sind in den letzten Jahrzehnten jedoch verschwunden oder durch neue, verkleidete Betonmauern ersetzt worden. Dem Erhalten, Ausbessern und wieder Instandstellen der Rebmauern kommt eine kulturhistorisch grosse Bedeutung zu. Darüber hinaus sind die Trockenmauern besonders wertvolle Lebensräume für Pflanzen und Kleinlebewesen, darunter teils auch stark gefährdeten Arten.»

(aus: Schützenswerte Objekte, Lebensräume und Landschaften innerhalb der Siedlung. Gemeinde Vaduz)

Als jemand, der in den 1960er- und 1970er-Jahren im Vaduzer Villenviertel aufgewachsen ist, dürfte ich, ebenso wie mein Bruder, eine ortsbezogen andere Vorstellung haben von dem Vaduz der Kindheit als die Alterskolleginnen und -kollegen aus dem Möliholz oder dem Äuli. Einerseits gehörte der nahe Wald zu unseren Jagdgründen, andererseits nutzten wir auch die Weinberge entlang der Wingertgass, an der unser Zuhause lag, für unsere Abenteuer. Auf unseren nicht immer legalen Streifzügen durch den unteren Bereich des Villenviertels, wo einheimische Winzerkultur mit ausländischer Architektur verschmolz und wo sich Frau Fuchs und Herr Haas Guten Tag sagten, da dienten uns die langgezogenen einstigen Trockensteinmauern als Kletterpartie, Versteck und Ausguck und die rötlich angerosteten und quietschenden Eisentore waren uns Eingänge in Abkürzungen und Fluchtwege.

Die Wingertmauern gab es in drei Varianten: Oben zu einer spitzen Kante zulaufend – dies hatte Mutprobencharakter, wollte man auf ihnen entlangbalancieren –, oben abgerundet oder flach. Letztere waren im Zuge von Restaurierungen vermörtelt oder mit Zement saniert worden. Vor allem aber die kantigen Mauern machten den Anschein, sehr alt zu sein und vermutlich seit der Römerzeit die Strassen und Wege in Oberdorf und Mitteldorf zu säumen. Was natürlich nicht stimmt. Ich kann nicht sagen, wann die erste Wingertmauer in Vaduz bzw. in Liechtenstein errichtet wurde. Trockensteinmauern gab es schon sehr früh und sie waren nicht nur für den Weinbau vorgesehen. Da gab es ohnehin ganz andere Möglichkeiten der Abgrenzung: Z. B. aus Dornstauden in Fronarbeit «gezäunte» Einfriedungen oder Sträucher. Den Mauern, die fast ausschliesslich rund um die grossen Rebzonen und in Abgrenzung zu Wegen und Strassen gebaut wurden, kam eine weitere Funktion zu: Schutz vor dem Schutt der Möliholz-Rüfe, die bis ins 19. Jahrhundert ihren Dreck und ihr Geröll ins Oberdorf schob. Es gibt daher auch einen Unterschied zwischen den Wingertmauern in Dörfern wie z. B. Vaduz oder Triesen und denjenigen z. B. in Balzers. Die Wingertmauern in Balzers, so wie sie sich am Gutenberg-Hügel zeigen, hatten und haben vor allem eine Stützfunktion, ziehen sich die Weinberge den doch recht steilen Hang hinauf. In Vaduz hingegen und auch in anderen Winzerdörfern dienten die Mauern als Schutz gegenüber Mensch, Tier und Rüfe und sie waren bis in den Dorfkern hinunter stets entlang von Strassen und Wegen/Pfaden errichtet worden. Später kamen anstelle von Mauern auch Eisenzäune mit Drahtgeflecht hinzu. Innerhalb der Rebzonen gab es zwischen den einzelnen Parzellen keine Mauern. Da brauchte es keine Abgrenzungen. Man wusste, wem was gehörte.

In meiner Erinnerung höre ich meinen Vater sagen, dass die Wingertmauern – zumindest in Vaduz – geschützt seien. Dementsprechend war ich in späteren Jahren empört, als ich augenreibend feststellen musste, wie plötzlich eine Mauer nach der anderen verschwand oder in einer Art und Weise nach- bzw. umgebaut wurde, die nichts mehr mit dem Charakter der alten Mauern zu tun hatte. Und wie es so geht: Man trifft Gleichgesinnte, die sich ähnlich ärgern. Und man schimpft. Und landet am Ende bei den Behörden, die solches zulassen. Aber ist diese Kritik gerechtfertigt? Ich habe nachgefragt. Die Antwort lässt sich kurz und bündig zusammenfassen: Nein. Die Baubehörde hat keine Handhabe, den Abbruch von alten Wingertmauern zu verhindern, wenn die Privatperson dies so haben will. Und seien die Beweggründe auch noch so armselig. Ebenso hat die Baubehörde keine Möglichkeit, einen Wiederaufbau einer z. B. aufgrund eines Neubaus abgebrochenen Wingertmauer anzuordnen. Es gab und gibt, heisst es, weder irgendein Gesetz noch eine Verordnung betreffend Unterschutzstellung von Wingertmauern. Und dennoch stellen sich mir Fragen.

Wie kam mein Vater, der ja vieles über Vaduz wusste, dazu, zu behaupten, die Wingertmauern wären geschützt? War er einem Wunschdenken auf den Leim gegangen? Vielleicht war es einfach so, dass es für die «alten Vaduzer» klar war, dass Wingertmauern den Charakter ihres Dorfes massgeblich prägten und dass ihr Erhalt auch ohne Bauverordnung eine Selbstverständlichkeit war, aber irgendwann rutschte diese Ansicht bei einer jüngeren Generation, die plötzlich alles kann, weil sie es kann, aus dem Bewusstsein. Andererseits gibt es aber auch diesen Satz: «Schützenswert nach Art 5b und 6a [des Gesetzes zum Schutz von Natur und Landschaft] sind alle trocken gebauten Mauern sowie Mauern, die mit Kalkmörtel errichtet wurden. Dies beinhaltet auch solche, die irgendwann mit (Zement- oder anderem) Putz überdeckt wurden.» Wer hat hier etwas falsch verstanden?

Nach aktueller Auskunft der Baubehörde ist es auch so, dass sich die Gemeinde bei der Wiederherstellung einer Wingertmauer zu 50 % an den Kosten beteiligt. Wieso war das damals nicht der Fall? Oder hatte man vergessen, dies den Bauherren mitzuteilen?

Es gibt eine Geschichte, wie vor wenigen Jahren im Zuge von Bauprojekten an einer Gasse im Vaduzer Oberdorf Wingertmauern abgerissen werden mussten und anschliessend von den Bauherren auf dem Amtsweg verlangt wurde, die Wingertmauern auf eigene Kosten wieder herzustellen. Wie konnte es dazu kommen? Hat hier ein Vertreter des Bauamts nach seinem eigenen, um ein schönes Ortsbild bemühten Empfinden gehandelt? Oder gab es am Ende doch eine entsprechende Verordnung? Nach aktueller Auskunft der Baubehörde ist es auch so, dass sich die Gemeinde bei der Wiederherstellung einer Wingertmauer zu 50 % an den Kosten beteiligt. Wieso war das damals nicht der Fall? Oder hatte man vergessen, dies den Bauherren mitzuteilen? Oder hat sich alles ganz anders zugetragen? Wem gehören die Wingertmauern überhaupt? Der Gemeinde oder Privaten?

In Liechtenstein geistert eine Publikation aus dem Beginn der Nuller-Jahre herum. Diese nennt sich «Schützenswerte Objekte, Lebensräume und Landschaften innerhalb der Siedlung. Gemeinde Vaduz». Erstellt vom Amt für Wald, Natur und Landschaft. Wie mir vom Vaduzer Bauamt mitgeteilt wurde, dient die Publikation durchaus als Anregung und Entscheidungshilfe bei . . . ja, bei was denn eigentlich? Im Zusammenhang mit den Wingertmauern möchte ich zwei Sätze zitieren: «Es ist die gegenseitige Durchdringung von Siedlung und Rebbergen mit den kennzeichnenden Trockenmauern und sehr alten Strassenverläufen, die den Charakter des Quartiers prägen. Daher sollten die Rebberge und Wingertmauern nicht weiter reduziert werden.» Leider habe ich nicht das Gefühl, dass diese Aussagen zu irgendeiner Entscheidung beigezogen werden. Wie kann es sein, dass die Wahrnehmungen hier so weit auseinanderklaffen?

Vaduz unternimmt seit ein paar Jahren einiges, um sein Image aufzubessern. Und das macht durchaus Freude. Weg vom reinen Finanzplatz, der die Architektur des Dorfzentrums über Jahrzehnte nicht unbedingt zum Schöneren prägte, hin zu einem für Mensch und Tier lebenswerten Ort: «Vaduz summt»/Biodiversität, Nachhaltigkeit, Hofstätte Hintergass, «Ernährungsfeld», Nachhaltigkeit, «Räumliches Konzept» und immer wieder Nachhaltigkeit. Aber irgendwie beschleicht einen das Gefühl, dass dabei trotz aller Anstrengungen das Ortsbild flöten geht. Was aktuell vor allem im Vaduzer Oberdorf und Villenviertel, also Gegenden, die ausserhalb des «Räumlichen Konzepts» liegen, allein aus Partikularinteressen geschieht, ist schlicht unter jeder Kanone. Wieso macht sich hier niemand stark für ein schützenswertes Ortsbild? Da investiert man viel Geld und Herzblut in die Hofstätte Hintergass, aber verschliesst die Augen vor dem, was ringsum gebaut wird. Da animiert man dazu, aus den privaten Monokulturgärten blühende Bienenwiesen zu zaubern und verschliesst die Augen, wie gleichzeitig weitaus mehr Grünflächen zubetoniert werden. Warum bemüht sich die Gemeinde nicht darum, noch mehr für die Erhaltung des Ortsbildes zu tun? Ist es zu schwierig? Hat man Angst? In Zeiten der sogenannten «Verbotskultur» könnte man es doch mit Anreizen versuchen: «Anreize können finanzieller Art sein, doch kann auch die Steigerung der Lebensqualität ein wichtiger Anreiz sein. Hier gilt es, gute, auf den Charakter der lokalen Landschaft abgestimmte Beispiele zu schaffen. Es soll für jedermann sichtbar werden, was er durch eine schönere, dem Ort angepasste Siedlungsumgebung gewinnt.»

Der Weinberg war zu diesem Zeitpunkt bereits verkauft und die Planung für eine Überbauung lief. Was der Gemeinde durchaus bekannt war. Schliesslich war der damalige Bürgermeister im Vorfeld des Verkaufs angefragt worden, ob nicht die Gemeinde den Wingert kaufen wolle.

In den späten 1980er-Jahren entstand im Vaduzer Oberdorf, direkt vis-à-vis vom denkmalgeschützten Roten Haus eine durch die Gemeinde initiierte Überbauung im Rahmen der Wohnbauförderung. Den hierzu ausgeschriebenen Wettbewerb, bei welchem der besondere bauliche Charakter dieses alten Dorfteils berücksichtigt werden sollte, hatte das Projekt «Wingert» (Architekt Hubert Ospelt) aufgrund der «gelungenen Eingliederung in das Ortsbild» gewonnen. Um dies noch weiter hervorzuheben, wurden strassenseitig Stützmauern im Stile einer Wingertmauer angebracht. Vor vier Jahren spielte das Ortsbild nochmals eine grosse Rolle, als Bewohner eines der Häuser der Überbauung beim Bau einer Einrichtung in ihrem Garten dazu verpflichtet wurden, sich bei der Material- und Farbwahl des Objektes an dem auf der anderen Strassenseite befindlichen Weinberg zu orientieren. Was natürlich mit Mehrkosten verbunden war. Bemerkenswert daran: Der Weinberg war zu diesem Zeitpunkt bereits verkauft und die Planung für eine Überbauung lief. Was der Gemeinde durchaus bekannt war. Schliesslich war der damalige Bürgermeister im Vorfeld des Verkaufs angefragt worden, ob nicht die Gemeinde den Wingert kaufen wolle. Er entschied sich damals in Eigenregie gegen den Kauf. So lief der geforderte Ortsbilderhalt ins Leere.

Die Sorge um die letzten verbliebenen Weinberge und damit verbunden die Wingertmauern gehört in meinen Augen zwingend zum Erhalt des Ortsbildes des einstigen Winzerdorfes Vaduz. Hierzu wäre es aus meiner Sicht dringend nötig, dass sich die zuständigen Personen an einen Tisch setzen und sich überlegen, was noch zu retten ist und wie es noch zu retten ist. Die genannte Publikation regt einen Beirat an: «Ein Natur- und Gestaltungsbeirat soll ein Gremium aus Fachleuten aus Landschaftsarchitektur und -planung, Ökologie, Raumplanung, Architektur etc. sein. Ein solcher Beirat kann dem Bauamt der Gemeinde (oder des Landes) zugeordnet sein und bei Planungs- und Bauvorhaben der öffentlichen Hand sowie von Privaten beratend zur Seite stehen, ohne dabei Entscheidungskompetenz zu besitzen. So können Auflagen vermehrt im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung der ökologischen und landschaftlichen (und auch gestalterisch-ästhetischen) Qualitäten des Dorfes gerichtet werden.» Da ein solcher Beirat ganz offensichtlich fehlt, wäre es vielleicht an der Zeit, konkret darüber nachzudenken. Nachhaltigkeit ist doch das grosse Thema?

Und wie sieht es eigentlich in den anderen Gemeinden aus?