zurück
60Plus | Jahreszeiten | Oktober, 2017
A A

Schreien ist besser als kämpfen – oder: Warum röhren die Hirsche?

Von Michael Fasel, Wildtierbiologe und Jäger

Suchender junger Brunfthirsch (Foto M. Fasel)

Der Brunftschrei des Hirsches ist ein eindrückliches Erlebnis für uns Menschen, vor allem, wenn man das Glück hat, ihn aus der Nähe zu hören. Er ist über einen Kilometer weit zu vernehmen und man fragt sich, warum eine so heimliche, versteckt lebende Wildart wie der Rothirsch einen solchen Lärm macht. Die Antwort ist ganz einfach. Der Hirsch will sagen, ich bin jetzt hier, der Brunftplatz ist besetzt, Nebenbuhler halte dich raus. Aber es steckt noch viel mehr dahinter.

Rothirsche sind sozial hoch organisierte Tiere, die in Rudeln leben und keinen festen Platz für sich beanspruchen. Männliche und weibliche Rothirsche leben in getrennten Gruppen und treffen nur während der Brunftzeit aufeinander. Die grossen Rudel bestehen aus einem erfahrenen Leittier und einer unbestimmten Anzahl weiterer Hirschkühe mit ihren Kälbern. Männliche Nachkommen verlassen die Mutterrudel spätestens im dritten Lebensjahr und bilden Junggesellengruppen. Von Mitte September bis anfangs Oktober werden die Hirschkühe brunftig. Der Geruch der Weibchen in dieser Zeit, mag die Hauptursache für das Röhren der Hirsche sein. Diese entwickeln dann eine erstaunliche Aktivität, nachdem sie fast elf Monate lang ein ruhiges Dasein fristeten.

Der Brunftschrei ist ein langgezogener heiserer Schrei aus tiefem Hals. Er hat eine ganze Reihe von Bedeutungen, die von Wildbiologen beschrieben werden. Es ist eine klare, laute Ansage gegenüber den Artgenossen, um mitzuteilen, wo sich wer gerade aufhält und in welchem Gemütszustand er sich befindet. Man zieht es vor, mit seinem Geschrei zu imponieren, um kraftzehrende Duelle zu vermeiden. So kann es rund um das Aufenthaltsgebiet der Hirschkühe zu regelrechten akustischen Duellen zwischen den Hirschen kommen. Der Jäger sagt dann, die Hirsche «schreien sich zusammen». Gelangen zwei gleich starke Hirsche aneinander, recken sie ihre Geweihe in die Höhe, um auch damit zu imponieren. Geht das Spiel weiter, paradieren die beiden in einem Parallelgang um herauszufinden, wer der Stärkere sein könnte. Genügt das noch nicht kann es zu einer Art Ringkampf kommen. Die Hirsche versuchen sich gegenseitig mit den Geweihen vom Platz zu drücken oder auf die Seite zu werfen. Ergibt sich nicht schnell eine Entscheidung über die Kräfteverhältnisse kann der Kampf heftiger werden. Geforkelte Hirsche, die Stichverletzungen aufweisen sind dabei keine Seltenheit. Tödlich gehen solche Kämpfe sehr selten aus.

Man zieht es vor, mit seinem Geschrei zu imponieren, um kraftzehrende Duelle zu vermeiden. So kann es rund um das Aufenthaltsgebiet der Hirschkühe zu regelrechten akustischen Duellen zwischen den Hirschen kommen. Der Jäger sagt dann, die Hirsche «schreien sich zusammen».

Kann sich ein Hirsch in einem Duell behaupten, schickt er dem Verlierer einen Sprengruf hinterher. Das ist ein kurzes, ruckartiges Schreien in dicht aufeinanderfolgenden Sequenzen. Dieser Ruf ist auch zu hören, wenn ein Platzhirsch ein brunftiges Tier (Hirschkuh) vor sich hertreibt oder wenn er es zum Rudel zurückholt. Es ist auch eine Art Drohlaut, den ein Hirsch von sich gibt, wenn sich ein Rivale zu nahe heranwagt. Auch hier gilt die Devise: «Schreien ist besser als kämpfen». Sprengruf bedeutet in der Regel, dass der Hirsch in Bewegung ist.

Manchmal «trenzen» Hirsche, wenn sie einen kurzen Ruf von sich geben, der nicht mit grosser Kraft und aus vollem Hals ausgestossen wird. Das mag ein Zeichen von Zufriedenheit sein, von einem Gefühl, dass alles in Ordnung ist und keine grösseren Aktionen nötig sind. Der Jäger bezeichnet eine weitere Lautäusserung als «knörren», wenn ein Hirsch nieder getan ist oder ruhig steht und einen kurzen tiefen Brummler von sich gibt. Oft sind es alte, heimliche Hirsche, die mit wenig auffälligen, tiefen Brummlern von sich hören lassen. Das Knörren ist nicht weit zu hören, aber für den erfahrenen, aufmerksamen Jäger ist es ein gutes Zeichen, dass ein reifer Hirsch in der Nähe ist.

Ein reifer, alter Hirsch ist zwölf bis vierzehn Jahre alt und kann noch ein paar Jahre leben. Aber er nimmt meist nicht mehr aktiv am Brunftgeschehen teil. Ihn plagen wohl die gleichen Beschwerden wie uns Menschen in hohem Alter: Gicht, Bandscheibenvorfälle, Hexenschüsse, alte Verletzungen und vielleicht auch das Zahnweh. Alte Hirsche ziehen es deshalb vor, die Brunft an einem ruhigen Ort mit einer oder zwei Hirschkühen zu verbringen und dem Gezeter am Brunftplatz aus dem Wege zu gehen.

Oft besteht bei Jägern die Meinung, dass die Stimme eines Brunfthirsches umso tiefer klingt je älter er ist. Das ist nur sehr eingeschränkt richtig. Die Stimme des Brunfthirsches ist umso tiefer oder heiser, je länger er schon geschrien hat, unabhängig vom Alter.

Oft besteht bei Jägern die Meinung, dass die Stimme eines Brunfthirsches umso tiefer klingt je älter er ist. Das ist nur sehr eingeschränkt richtig. Die Stimme des Brunfthirsches ist umso tiefer oder heiser, je länger er schon geschrien hat, unabhängig vom Alter. Natürlich röhren ältere Hirsche öfter als junge, weil sie sich mehr Nebenbuhler vom Hals schreien müssen. Aber auch energische, streitsüchtige Jungspunte können mit tiefer Stimme röhren.

Auch die Hirschkühe geben Laute von sich. Der Jäger nennt es «mahnen». Ein kurzer nasaler Laut, den Sie ausprobieren können, indem Sie die Nase zuhalten und aus dem Gaumen heraus ein kurzes «äähh» von sich geben. Innerhalb des Weibchenrudels sind immer wieder solche Laute zu hören. In der Regel mahnt eine Hirschkuh, um Kontakt mit dem Kalb aufzunehmen.

Eines der besten, aktuellsten Bücher zum Rothirsch: Hubert Zeiler, Herausforderung Rotwild. Osterreichischer Jagd- und Fischereiverlag. 2014. CHF 49.90