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60Plus | Horizont | Juli, 2018
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Dies und das von und über Paul Flora

von Marcus Büchel

«Ich bin auch als Humorist nicht besonders heiter.»

 

Paul Flora, einer der bedeutendsten Karikaturisten und Zeichner der jüngeren Zeit, unterhielt sehr enge Beziehungen zu unserem Land. Wir begeben uns auf die Spuren dieses herausragenden Künstlers und entdecken ihn als Schriftsteller.

Ich begegne Flora häufig, meist im Stiegenhaus. Eine schwarze Gestalt im bodenlangen Überhang; unter einem ausladenden Zylinder lugt ein grosses Auge heraus, das mehr an jenes eines Raben als an das eines Menschen erinnert. Das Gesicht wird von einer Maske, die einen riesigen Vogelschnabel bildet, verdeckt. Bei dem schrägen Vogel auf dem Bild handelt es sich um einen «Pestarzt», wie der Titel den Betrachter wissen lässt.

In Floras Welt

Einige Elemente des floraschen Kosmos tauchen auf dieser «Pestarzt»- Lithographie auf: die Schraffurtechnik, die Monochromie, die Liebe zu den Rabenvögeln, das Düster-Geheimnisvolle, aus dem der Schalk hervorblitzt, die Liebe zu Venedig, wo die Pestärzte aus Schutz vor Infektionen tatsächlich derartige groteske Schnabelmasken trugen. Es sind nicht nur die Sujets, die typischen Gestalten seiner Figuren und Objekte, sondern vor allem die von ihm entwickelte Strichtechnik, die seine Werke auch für Laien unverkennbar machen. Wer sich je mit einem Bild von Paul Flora befasste, der wird in Zukunft einen «Flora» mit einiger Sicherheit erkennen. Der typische Zeichenstil trug wesentlich zur Popularität seines zeichnerischen Werks bei. Flora selbst bekannte freimütig, dass ihm Erfolg Vergnügen bereite und war der Überzeugung, dass jeder Künstler, der das Gegenteil behauptet, nicht die Wahrheit sage.

Meine täglichen Begegnungen mit dem «Pestarzt» und anderen «Floras» in unserem Haus bereiten mir Freude; exklusiv ist dieser Kunstgenuss in unseren Privaträumen nicht. Paul Flora war ein überaus produktiver Künstler. Seine politischen Karikaturen – aufs Wesentliche reduzierte Skizzen von ungemeiner Lebendigkeit – sind über Jahrzehnte in renommierten Zeitungen erschienen. Tausende Karikaturen zeichnete er zum aktuellen politischen Geschehen für Die Zeit, Du, The Times sowie etliche andere renommierte Periodika. Die Zeitungsarbeiten waren nicht nur einträglich, sondern auch Quelle seiner Popularität. Andererseits brachten sie aber auch ständige Verpflichtungen. Letztlich verfolgte Flora das Ziel, ein ungebundener Künstler zu sein. Sobald ihm die wirtschaftliche Grundlage als genügend abgesichert erschien, zog er sich als politischer Karikaturist zurück und sistierte die Zusammenarbeit mit den Medien. Flora dachte gewiss kaufmännisch, aber die Selbstbestimmung war ihm über alles wichtig.

Seine Arbeiten wurden nun nicht mehr millionenfach verbreitet. Der Besitz von Originalen ist auch beim fleissigsten Künstler auf wenige Sammler beschränkt. Auch die Auflage der Abzüge bei Lithographien und Radierungen ist naturgemäss auf einige wenige hundert begrenzt. Doch mit seinen Buchillustrationen, Weinetiketten, Postern, Telefonwertkarten, Logos und vor allem Briefmarken erreichte er immer noch ein Massenpublikum.

Gerade einmal für zwei Länder entwarf Flora Briefmarken, nämlich für Österreich und Liechtenstein. In Liechtensteins Philatelie spielt Flora eine bedeutende Rolle: Zwischen 1985 und 1998 erschienen mehrere von Flora gestaltete Briefmarkenserien. Somit kann jedermann auf einen Flora stossen, auch wenn sie oder er weder Galerien noch Museen besucht und sich auch keine Bilder in die gute Stube hängt.

Eine Geschichtsstunde mit Langzeitwirkung

Waren die «Floras» schier allgegenwärtig, so bin ich dem Künstler jedoch nur einmal persönlich begegnet. Dafür war diese Begegnung sehr eindrücklich.

Es begab sich in den 70er Jahren nach einer Ausstellung im TaK – das TaK führte damals noch eine Galerie – , als ich mit meiner Freundin und späteren Ehefrau die Ehre hatte, zu einem Privatissimum mit Paul Flora beim damaligen Intendanten Alois Büchel eingeladen zu sein. Was als erstes auffiel, waren Floras Stimme und Sprachduktus. Wer ihn je in seiner bedächtigen, niemals aufgeregten Art und der dazu passenden tiefen Stimmlage mit der unverhohlenen Vinschgauer-Innsbrucker Dialektfärbung gehört hat, wird Flora allein an diesen Merkmalen identifizieren können: derselbe hohe Wiedererkennungseffekt wie beim zeichnerischen Oeuvre. Das Thema des Abends war eine geschichtsphilosophische Betrachtung, ob es bei der Menschheit so etwas wie Fortschritt gebe. Flora argumentierte klug, ohne besserwisserisch zu werden. Es war nicht ein gewolltes Understatement, welches er pflegte, vielmehr war er seinem Naturell nach bescheiden in seiner Meinung über sich und zurückhaltend in der Selbstdarstellung. Nun, er war fest davon überzeugt, dass sich die Geschichte gleichsam in einem Kreis ewig wiederhole und dass der Mensch – er meinte wohl in seiner moralisch-ethischen Dimension – sich nicht weiterentwickle. Natürlich hielten wir, erfüllt vom Fortschrittsglauben, in jugendlichem Überschwang dagegen, selbstverständlich ohne ihn überzeugen zu können. Flora war nicht nur ein Skeptiker, sondern durch und durch Pessimist. Seine stets präsente Ironie erlaubte es ihm, emotional in eine gesunde Distanz zu dieser Geisteshaltung zu treten, daher Menschenfreund zu sein und lebensfroh zu bleiben.

Seine stets präsente Ironie erlaubte es ihm, emotional in eine gesunde Distanz zu dieser Geis- teshaltung zu treten …

Immer wieder gerät man auf Floras Spuren, wie unlängst auf einer Kulturreise des Historischen Vereins in den Vinschgau, die auch nach des Künstlers Geburtsort Glurns führte. Dort verbrachte er seine ersten fünf Jahre; 1927 übersiedelte die Familie nach Innsbruck. Die Verbindung zur Heimat der frühen Jahre blieb sein Leben lang ungewöhnlich fest. Wiewohl Flora von seiner Kindheit an in Innsbruck lebte, bezeichnete er sich selbst als Südtiroler. Die unverbrüchliche Verbindung zeigt sich in Floras Wunsch, in Glurns beerdigt zu werden. Nicht nur dieser Wunsch wurde erfüllt. Die knapp 900 Einwohner – und damit weniger als Schellenberg – zählende, vollständig von einer Verteidigungsmauer eingerahmte mittelalterliche Stadt, benannte nicht nur die Hauptstrasse nach ihrem berühmten Sohn, sondern widmete ihm ein eigenes Museum am Tauferer Tor. Dort kann man einen schönen Einblick quer durch Floras Schaffen bekommen.

Enge Beziehungen

Floras zeichnerisches Werk ist dermassen üppig, dass es sein literarisches Schaffen überragt. Im Schatten steht es deshalb nicht. Dass Flora seiner Schriftstellerei eine ebenbürtige Bedeutung beimass, kann man schon daran erkennen, dass er von 1999 an Mitglied des P.E.N.- Club Liechtenstein war. Von 2003 bis 2006 amtete er als Präsident, und danach bis zu seinem Tod war er Ehrenpräsident dieser angesehenen Autorenvereinigung. Vereine, Verbände und dergleichen Körperschaften waren Flora suspekt. Im Allgemeinen mied er sie deshalb. Mit dem Liechtensteiner P.E.N.-Club machte er eine Ausnahme. Und es waren wohl besondere freundschaftliche Bande und ihm zugeneigte Besonderheiten des hiesigen Clubs, die es ihm erlaubten, sich zugehörig zu fühlen. Überhaupt waren Floras Beziehungen zu unserem Land vielfältig und fest. Da waren nicht nur die Kunst- und Kulturszene mit den Galerien, in denen er ausstellte, das Amt für Briefmarkengestaltung und andere Auftraggeber und Käufer. Was diese aussergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit aber mit Liechtenstein vor allem verband, waren die persönlichen Beziehungen, gewiss der P.E.N.-Club und bedeutsame Freundschaften.

Der Zeichner als Literat

Zur Lektüre des ersten Flora-Textes kam ich aber erst letztes Jahr durch ein Geschenk. Freunde von mir bedachten mich mit einem Büchlein von Flora, welches bereits 1997 erschienen war. Wohl zum 20-Jahr-Jubiläum der Erstveröffentlichung befanden sie, dass es endlich Zeit sei, dass ich auch einen «Flora» ins Bücherregal stellen können sollte. Das Geschenk erwies sich als gut ausgewählt. Meine erste Lektüre von Literatur aus Floras Feder bereitete mir so grosses Vergnügen, dass ich dieses gerne auch anderen gönnen möchte.

In dem schmalen Band, der den zutreffenden Titel «Dies und das» trägt, wurden von Daniel Keel Aufsätze, Essays und Ansprachen versammelt, die allesamt bereits publiziert worden waren, meist in Zeitschriften. In der Hälfte der 14 Beiträge der Anthologie befasst sich Flora mit Künstlerpersönlichkeiten, die wie er mit derselben Doppelbegabung, dem Malen bzw. Zeichnen und dem Schreiben, ausgestattet sind. Zu diesem Kreis gehört Fritz von Herzmanovsky-Orlando. Diesen ebenso bedeutenden wie skurrilen altösterreichischen Autor würdigt Flora als Dichter und Zeichner, der der Menschheit «Schätze von Geschriebenem und Gezeichnetem» hinterlassen hat, in einer Sprache, die den fantastischen Geschichten und der «wildwuchernden Prosa» des Portraitierten in nichts nachsteht.

Verstehen werde dieses Werk ohnedies nur jemand, der dessen Qualität und Reichtum zu sehen vermag, mit einem Wort, nur derjenige, welcher «Sinn für höheren Humor hat. Den anderen ist leider nicht zu helfen.»

In einem weiteren Beitrag stellt er Vita und Werk des 1942 aus Rumänien in die USA ausgewanderten Saul Steinberg vor. Dieser kreative Kopf dürfte nicht jedermann bekannt sein, obwohl er der «Vater fast aller Karikaturisten» der Nachkriegszeit gewesen sei. Flora adelt Steinberg als «genialen Zeichner, der zufällig Humorist» war. Er hält es für vollkommen überflüssig, Steinbergs «vollkommene und spielerische Meisterwerke» zu erklären. Verstehen werde dieses Werk ohnedies nur jemand, der dessen Qualität und Reichtum zu sehen vermag, mit einem Wort, nur derjenige, welcher «Sinn für höheren Humor hat. Den anderen ist leider nicht zu helfen.»

Rudolf Schönwald ist auch eine der floraschen Wiederentdeckungen. Er wirkte völlig seriös als Zeichenprofessor an der Technischen Hochschule in Aachen. Der als Österreicher im deutschen Ausland, also «im Exil», lebende brave Akademiker erfand nebenher eine Comic-Figur namens Goks. Dieser Goks führte im Auftrag seines Schöpfers ein ziemlich wildes Leben im Stil der 68er. Flora hält Schönwald, diesen «preisgekrönten und überhaupt viel zu wenig bekannten» Meister der freien Grafik und der freien Rede, für den Erfinder des esoterischen Anti-Comic-Strip und Wien für den einzigen und daher mystischen Ort, wo dergleichen (neben Psychoanalyse, Wittgenstein-Logik und Zwölftonmusik) entstehen konnte. Flora verheisst, Goks zu lesen soll ein gleichermassen intellektuelles wie grafisches Vergnügen bereiten.

Vorgestellt wird der Maler und Eigenbrötler Paul von Rittinger, ein «Abenteurer im Schlafrock» aus Innsbruck, den kaum jemand kennt, obwohl er doch das «zauberhafte» Sindbad-Spiel ersann: «Ein komplizierteres Spiel ist nie ersonnen worden» – ebenso fantastisch wie kaum spielbar. Flora selbst eignete sich die Regeln an und vermochte es mit seinen fantastischen Figuren auch zu spielen.

Alles andere als unbekannt ist ein anderer Künstlerkollege: Alfred Kubin. Ohne noch dessen Bedeutung Anfang der 70er Jahre zu kennen, war ich fasziniert von Kubins kongenialen Illustrationen der Erzählungen von Edgar Allen Poe. Die einfühlsame Hommage an Alfred Kubin, den er als «Fischer im Trüben» bezeichnet, leitet Flora mit einem seiner legendären philosophischen Statements ein: «Vieles in der Kunst- und Geistesgeschichte ist Trug und Chimäre. So entzünden vielleicht auch wir ein Irrlicht, wenn wir uns an den 100. Geburtstag eines Mannes erinnern, der zeitlebens mehr von geträumten als von realen Dingen hielt.» Flora war mit Kubin freundschaftlich verbunden. Auch wenn dies nicht erwähnt wird, ist nicht zu überlesen, dass Flora mit dem herausragenden Zeichner und Schriftsteller Kubin, der sich vor seinen Ängsten und den Verstörungen seiner Zeit ins Irreale rettete, sich in Sympathie verbunden fühlt.

Bei der Besprechung des bekannten Bildes «Admiral Tegetthoff in der Seeschlacht bei Lissa» von Anton Romako – auch dieser Maler ein schwieriger Sonderling – wird einem deutlich, welch guter Beobachter Flora war. Nicht nur dies: Er vermochte das Wahrgenommene in Worte zu fassen und in den historischen Kontext zu setzen. So gerät eine simple Bildbetrachtung bei ihm zu einer höchst interessanten Reise und man möchte sich gerne Flora bei Führungen durch Ausstellungen anschliessen.

Die Kraft der Karikatur

Wie man aus dem Panoptikum der vorgestellten Figuren erlesen kann, gilt seine Zuwendung den Künstlern und Käuzen, den Träumern und Fantasten, den Unangepassten und stillen Widerständlern, den vergessenen Geistreichen und scheiternden Hochbegabten.

Floras grosse Begabung, Charakterzüge mit einigen Strichen herauszuarbeiten, kommt auch in seiner literarischen Arbeit zum Tragen. Auf dem Feld der Worte erweist er sich gleichermassen als genauer Beobachter, der völlig unbestechlich, also frei von Konventionen, Erwartungen oder Tabus darstellt, was er wahrnimmt. Er zeichnet mit dem Stift ebenso wie mit Worten Psychogramme, Ergründungen des Wesentlichen von Personen ebenso wie auch von Völkern, Saaten und Städten, deren Geschichte er zum Genuss des Lesers mit Geschichten illustriert. Karikaturen von der hohen Qualität eines Flora sind im Grunde Charakterstudien.

Geprägt wurde Flora durch Chaplins Filme, vom Inhalt gewiss ebenso wie von der Filmsprache. Er war als «unbefangener und gedankenloser Knabe» in den 30er Jahren beeindruckt von der «Kraft des Komischen, und die grausamen und hintertückischen Seiten des Helden». Chaplin prägte seine Anschauung über Krieg und die Kriegerkaste. Aber als 1938 «Adolf der Bösewicht die Szene betrat, war auf der Bühne kein Platz mehr für Chaplin, den Humor, die Menschlichkeit, die Schönheit und die Intelligenz.» Schnitt und Blende in die 50er Jahre. Ausserordentlich köstlich ist die Episode, wie Flora befindet, es sei endlich an der Zeit, seinen Sohn mit Chaplin-Filmen vertraut zu machen und wie er – wir befinden uns im Konservativismus Anfang der fünfziger Jahre – das fünfjährige Kind zu «Modern Times» ins Kino schmuggelt.

Der ausgezeichnete Essay über Venedigs Dekadenz («Die welkende Pracht») und die Geschichte seiner Geburtsstadt Glurns sind ebenso lehrreich wie ergötzlich. Das finale grande bildet seine mit reichlich Selbstironie erzählte Lebensgeschichte, die er, wie stets bar jeglichen Eigendünkels, bescheiden mit «Dies und das über mich» betitelt.

Die Macht und die Mächtigen waren zentrale Motive für Flora. Die unzähligen Karikaturen, die er von Politikern, den Nachfahren des Adels, anfertigte, zeugen davon.

Floras Selbstbescheidung ist die eine Seite. Breite Anerkennung genoss er trotzdem (vermutlich auch deshalb) und genoss bei geistreichen Zeitgenossen grosse Wertschätzung. «Der Denker und Grübler Flora schreitet rückwärts in die Zukunft. Das scheint unzeitgemäss in einer Zeit, in der jeder, der da pinselt, schreibt oder komponiert, gleich die Gegenwart verändern will. Aber nur auf dem Umweg über die Vergangenheit wird eine Aussage über die Gegenwart möglich.» Der dies schrieb – Friedrich Dürrenmatt.

Aufstieg und Fall

Die Macht und die Mächtigen waren zentrale Motive für Flora. Die unzähligen Karikaturen, die er von Politikern, den Nachfahren des Adels, anfertigte, zeugen davon. In gewisser Weise entmachtet er sie, in dem er ihre Schwächen zeigt, Widersprüchlichkeiten bloss legt, das Menschliche eben. Das scheint mir etwas Besonderes bei Flora zu sein, dass er durch seine Satire den Mächtigen vom Sockel auf den Boden stellt; gleichsam wird für uns amüsierte oder betroffene Betrachter der Mensch aus seiner Rolle ausgepackt. Die Rolle mag lächerlich sein, aber den Menschen, wie er nun ausgewickelt vor uns als Betrachter steht, den entwürdigte Flora entgegen dem Zeitgeist nie.

Es bliebe ein allzu unvollständiges Bild von Flora, ohne wenigstens mit einigen Anmerkungen auf seine Beziehung zu Österreich im Allgemeinen und zu Tirol im Besonderen einzugehen. «Die Österreicher sind ein unglückliches, benachteiligtes und verkanntes Volk. Österreich, seit Maria Theresias Zeiten gewohnt, von einer Niederlage in die andere zu taumeln, von Furcht vor der Grösse ergriffen, weiss selbst nicht, dass es bedeutend ist, und wundert sich aber, dass es andere um so weniger wissen.» Ausdehnung und Grösse der Doppelmonarchie sind immer wieder Thema: «Kaum ein Hamburger weiss, dass einstens auch Altona, wie fast alles auf der Welt, einmal österreichisch war.» Die Venezianer dürften weniger vergesslich sein und sich erinnern, dass auch ihre Stadt zwischen 1792 und 1866 zum Kaiserreich gehörte. Die einstige Grösse und vor allem der Untergang der Monarchie ziehen sich durch das gesamte Werk. Militärs und Generalsgattinnen, Hofräte und Hofschranzen, Adelige und bürgerliche Parvenüs und andere Selbstdarsteller, sie alle bevölkern Floras Bilderwelt. Und wer kennt sie nicht, die Figuren aus der alten Tiroler Welt: Schützen, Kaiserjäger, skurrile Andreas-Hofer-Doubles, wehrhafte Bauern und tirolerhutbewehrte Schifahrer, die ebenso verwuzelten wie verwurzelten Alpenbewohner, die häufig so aussehen, als hätten sie eben einen Stromstoss überstanden. Auch sie Zeugen einer untergegangenen Welt.

Im Maroden, im Untergegangenen und im Scheitern, sei es von Individuen oder Systemen, äussert sich das Tragische. Das ist zentrales Thema. Durch Floras Kosmos wandeln tragische Helden. Flora karikiert sie, jedoch schüttet er weder Spott noch Hohn über sie. Er war Satiriker, ohne zynisch zu sein.

Rückwärts in die Zukunft

Mit Passion widmete sich Flora in seinem Werk dem alten Tirol. Die Beziehung zur Autobiografie ist offensichtlich. Die vermögende bürgerliche Familie – der Vater war Gemeindearzt – hatte den schrecklichen Krieg überstanden. Drei Jahre vor Pauls Geburt wurde Tirol aufgeteilt, infolgedessen wurde bekanntlich Südtirol als Kriegsbeute zwangsweise Italien einverleibt. Die Abspaltung war für die Südtiroler traumatisch und die Nachkriegssituation unter der als Besatzungsmacht erlebten neuen Staatlichkeit äusserst belastend. Über die Gründe für die «Übersiedlung nach Nordtirol» – in Wahrheit dürfte es eher eine Auswanderung gewesen sein – erfahren wir aus den autobiografischen Notizen wenig. Darin heisst es nur, dass der «Vater glücklicherweise die Idee hatte, sich wenigstens bis Innsbruck zu entfernen». Man kann nur vermuten, wie Flora das «glücklicherweise» gemeint haben könnte, nämlich, dass die Familie unter der neuen Herrschaft keine gute Zukunft für sich sah.

Wenn auch in karikaturhafter Form, in Floras Werk wurde das «Tirolerische durchkonjugiert». Damit wurde jene verflossene Zeit heraufbeschworen, in der die vier Teile Tirols noch ein Ganzes waren. Und dass die Klammer bis über den Tod hinaus verfolgt wurde, bemerkt man allein schon an Floras letztwilliger Verfügung, in Glurns beerdigt zu werden. Trauer über die Aufspaltung, Wehmut über die verlorene Heimat, beschäftigten ihn das ganze Leben über. Die Karikatur stellt Distanz – wie der Witz – Distanz her zu negativen Gefühlen. Jedoch: Bei aller Relativierung des Gegenwärtigen durchweht nicht ein Hauch von Glorifizierung des Vergangenen Floras Werk. Seine Wehmut gilt dem Verlust des Menschlichen. Und diesbezüglich ist Flora völlig unparteiisch.

Heimat war ihm nah, Nationalismus völlig fremd. Antiitalianismus oder Revanchismus kann ich in seinem Werk nicht erkennen. Derlei Gefühle schienen ihm völlig fremd zu sein. Geschichte ereignet sich eben; der Künstler vermag lediglich sie zu kommentieren. Und wer mag aus der Distanz, die Flora eigen ist, schon auszumachen, wer gut und wer böse, wer Opfer und wer Täter war. Aufstieg und Fall. Die Geschichte wiederholt sich, indem sie sich ewig im Kreise dreht. Das Lebensthema dieses klugen Künstlers.

Paul Flora: Dies und das. Nachrichten und Geschichten. Ausgewählt von Daniel Keel. Diogenes, Zürich 1997.

Der Titel ist lieferbar. Die Buchhandlung Omni in Eschen hält einige Exemplare vorrätig.