zurück
60Plus | Horizont | Oktober, 2021
A A

Welchen gesellschaftlichen Wert haben alte Gebäude?

Von Iris Ott

Was es mit der Baukultur von gestern und heute auf sich hat und weshalb es wichtig ist, sich mit alten Häusern zu beschäftigen, erklärt uns Dr. Marcus Büchel im nachfolgenden Interview.

Wie würden Sie den Begriff Baukultur umschreiben, wenn wir diesen mal auf die Gebäude begrenzen?

Dr. Marcus Büchel: Baukultur, im oben genannten Kontext, ist die menschliche Leistung für das Wohlsein des Menschen. Sie ist sinngebend, weil sie für die Menschen, die in diesen Gebäuden leben oder sie betrachten, einen Mehrwert darstellt. Baukultur geht über die reine Funktionsweise eines Wohn-, Geschäftsgebäudes oder dergleichen hinaus. In früheren Jahren wurde enorm viel Energie investiert, um dem eigenen Haus Ausdruck zu verleihen, dadurch vermittelte es von aussen auch ein Bild über deren Bewohner. 

Welche kulturellen Unterschiede sehen Sie zwischen Bauten von Anfang 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu Bauwerken der letzten 50 Jahre? 

Die Baukultur ändert sich ständig. Der wichtigste Unterschied zeigt sich darin, dass im 19. Jahrhundert das Errichten eines Hauses ausschliesslich handwerklich bewerkstelligt werden musste. So stellte jedes Haus ein Unikat dar. Im 20. Jahrhundert veränderte sich durch die Technologisierung auch die Bauweise: Bauteile wurden vorproduziert, standardisiert, und das spiegelte sich in einer stereotypen Bauweise wider. Die Häuser sind häufig ziemlich langweilig, und über ihre Funktion hinaus gibt es kaum einen Mehrwert. Es gibt beim Bauen wenig bis keinen Platz mehr für eigene Ideen und Interpretationen. So können wir uns nicht mehr bunt und vielseitig bewegen, wodurch ein Teil sozialer und emotionaler Bedürfnisse nicht mehr befriedigt wird. Weshalb besuchen Touristen praktisch immer Altstädte bzw. alte Bauten? Weil diese Gebäude in ihrer Einzigartigkeit zum Bestaunen und Verweilen einladen, weil sie die Fantasie anregen. 

Wie kommt es, dass sich ein Psychologe so engagiert für die sehr alten Gebäude Liechtensteins einsetzt? Gibt es Parallelen zwischen Psychologie und Baukultur?

Mein Interesse für Bauten wurde schon als Kind durch meinen Vater geweckt. Auch auf meinen zahlreichen Reisen habe ich durch die Besichtigungen von Häusern, Kirchen, Friedhöfen etc. die verschiedenen Kulturen kennengelernt. Die Baukultur sagt sehr viel über die Menschen aus, die sie erschaffen und erhalten oder eben nicht. Sie ist Ausdruck der Identität zum eigenen Land oder der eigenen Region. So gesehen ist die Baukultur eine Ausdruckspsychologie. 

Weshalb ist es so wichtig, dass wir als Gesellschaft den Wert historischer Gebäude erkennen?

Leider wird dem Erhalt von alten Gebäuden in Liechtenstein bereits seit dem 19. Jahrhundert wenig Beachtung beigemessen – viele Gebäude werden einfach abgerissen. Es geht ja bei den Bauten nicht ausschliesslich um Ästhetik, sondern um die Geschichten, die mit den Häusern einhergehen, und damit die Geschichten der Menschen, die darin lebten. Viele Narrative (sinnstiftende Erzählungen, Anm. d. Red.), welche den Menschen ihre Verwurzelungen und die Grundlagen ihrer Heimat näherbrachten, sind unwiederbringlich verloren gegangen. Beispiele hierfür sind das «Pöstle», die «Linde» in Schaan sowie das «Real» in Vaduz. Zu Letzterem gibt es nebst den Erinnerungen von Einheimischen auch zahlreiche Geschichten weltweit. Das zeigt, wie destruktiv wir mit der eigenen Geschichte und der Würdigung des Schaffens unserer Vorfahren umgehen. Wenn wir nicht fähig sind, zu respektieren und zu würdigen, wird dieses Kulturgut auch nicht weitergegeben und so können wir nicht davon ausgehen, dass uns selbst dieser Respekt bzw. diese Würdigung dereinst zuteil werden. 

Was beim Gasthof Kreuz in Eschen nicht gelungen ist, konnte beim «Hagen-Huus z’Nendla» sehr erfolgreich umgesetzt werden. Was machte den unterschiedlichen Ausgang der beiden Projekte aus? 

Das Hagen-Haus steht seit 1988 unter Denkmalschutz. Das ist die erste Voraussetzung zur Erhaltung eines Gebäudes. Allerdings bedeutet dies nur, dass die Eigentümer verpflichtet sind, die Substanz zu erhalten. Zum Zweiten habe ich mich vor rund acht Jahren mal genauer mit dem Haus-Hagen beschäftigt, und einen Artikel für 60PLUS verfasst, der auf grosse Resonanz bei Gleichgesinnten stiess. Dr. Walter Matt initiierte und produzierte daraufhin einen Film über das alte Haus, um noch mehr Öffentlichkeit zu schaffen. Finanzielle Unterstützer fanden sich ein, und wir gründeten einen Verein
(www.hagen-haus.li), um dem Projekt den notwendigen strukturellen Rahmen zu geben. Das alles trug dazu bei, das Hagen-Haus nicht nur zu erhalten, sondern es mit neuem Leben zu füllen und mit dem Hauptnutzer, der Musikakademie, einen sehr guten Partner zu finden. Beim Eschner Gasthof Kreuz – er stammt aus derselben Zeit wie die in klassizistischem Stil erbaute Nendler Hofstätte – waren die Voraussetzungen anders. Der stand nicht unter Denkmalschutz. Trotzdem hatten wir versucht, das Gebäude zu retten. Doch die Gemeinde hat sich leider für einen Abriss entschieden. 

Wenn Sie aus privaten Bauten der letzten 20 Jahre auswählen könnten, welchen gehörten Ihre grösste Aufmerksamkeit im Hinblick auf deren Zukunft?

Das Bankgebäude an der Schaaner Steckergasse des Architekten Richard Wohlwend stellt für mich ein Beispiel guter zeitgenössischer Architektur dar: Ein Bau mit unverwechselbarer Architektursprache und von bester Bauqualität. Es wurde erst vor 30 Jahren erbaut, diesen Sommer aber von der Landesbank abgerissen, hatte also nicht die Chance, zu einem modernen Klassiker zu werden. Der sogenannte «Bananenblock», ebenfalls von Richard Wohlwend, an der Rätikonstrasse in Vaduz ist ebenfalls ein bemerkenswerter Bau mit einer einzigartigen Formensprache.

Ein weiteres Beispiel, das mir in den Sinn kommt, steht ebenfalls in der Hauptstadt: Die ästhetische Spannung zwischen dem Weissen Kubus der Hilti Art Foundation und dem schwarzen Kubus des Kunstmuseums fasziniert mich. Beim Weissen Kubus haben sich Architekten und Bauherren ganz offensichtlich mit der Umgebung auseinandergesetzt, dadurch ist es ihnen gelungen, auch in funktioneller Hinsicht eine Verbindung zum Kunstmuseum zu schaffen. In unserer Zeit beziehungsloser Autismusarchitektur ist dies eine rühmliche Ausnahme. Mein Favorit ist die ehemalige Centrum Bank an der Kirchstrasse, das einzige Gebäude von Architekt Hans Hollein in Liechtenstein. Das ist ein unglaublich harmonisches, schönes Bauwerk. Es ist auch Ausdruck der Einstellung von Bauherren, die verstanden haben, dass sie, wenn sie schon über finanzielle Mittel verfügen, eine Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit haben, dieser etwas Wertvolles, etwas Schönes zu schenken. Dann – ich erlaube mir diesen historischen Rückgriff – sind die Gebäude von Ernst Sommerlad zu nennen, der in den 1920er Jahren die Architektur des Bauhaus nach Liechtenstein gebracht hat. Leider verschwindet ein Exemplar dieser Klassiker der Moderne nach dem anderen. Es gibt neben der dominanten, fürchterlich banalen «Sargarchitektur» zum Glück eine doch so erkleckliche Anzahl an bemerkenswerten Bauten aus den letzten zwei, drei Jahrzehnten in unserem Land, dass ich sie nicht aufzählen kann. Aber es gibt darüber auch gute und, wie ich allerdings befürchte, zu wenig beachtete Literatur1. Diese Gebäude verdienen unsere Aufmerksamkeit, da sie durch ihre Qualität und in ihrer Einzigartigkeit zur Vielfalt von Liechtensteins Baukultur wesentlich beitragen. Was das Wichtigste ist: Sie vermögen unser Gemüt zu erfreuen.  

«Wenn es uns mit dem Erhalt unseres kulturellen Erbes ernst wäre, könnten wir dies sozusagen mit einem Federstrich erreichen: Wir müssten nur sämtliche Gebäude, die vor 1920 erbaut wurden, unter Schutz stellen. Das ist keine abenteuerliche Idee, sondern entspräche sinngemäss dem Kulturgütergesetz.» (Dr. Marcus Büchel)

Dr. Marcus Büchel, Jahrgang 1953, ist Psychologe und war über 30 Jahre beim Amt für Soziale Dienste tätig, die letzten 17 Jahre (bis 2012) in der Funktion des Amtsleiters. Darüber hinaus setzt sich Dr. Marcus Büchel seit Jahren für den Erhalt historischer Gebäude ein, ist Kolumnist und Autor zahlreicher Publikationen sowie emphatischer Querdenker in positivstem Sinne.