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60Plus | Literatur | Dezember, 2023
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«Ein anderer Gott»

Unterwegs in Bosnien Herzegowina: Ein Reisebericht von Franz-Xaver Goop

«Wenn ihr nach Bosnien kommt, müsst ihr euch vorsehen, es ist nicht wie hier, aber ihr seid in dieser Hinsicht ja erfahren. Trotzdem: Passt auf und meldet euch bei mir, wenn ihr Probleme habt. Ich habe gute und verlässliche Kontakte im ganzen Land», meinte Igor, als er uns Mitte Juni dieses Jahres in Zagreb zum Busbahnhof begleitete. Igor war zehn Jahre alt, als er mit seinen kroatischstämmigen Eltern aus Sarajewo vom Bürgerkrieg (1992–1995) nach Zagreb floh. Wenn es ein Gebiet gibt, in dem uralte Erzählungen bis heute ihre langen Schatten auf die Menschen werfen, dann ist es der Balkan und im ganz besonderen Masse Bosnien Herzegowina.

Als wir nach einer vierstündigen Busfahrt am Busbahnhof von Banja Luka, der Hauptstadt des bosnischen Teilstaates Republika Srpska, eintreffen, entlädt sich ein heftiges Gewitter über der Stadt. Auf dem Glasdach über der menschenleeren Schalterhalle trommelt der Regen so lautstark, dass wir mit unseren wenigen bosnischen Wortbrocken keinen Eindruck auf die müde wirkende Schalterbeamtin machen. In einen dunklen Umhang gehüllt, lehnt sich die etwas behäbige Frau an die Rückwand ihrer engen Schalterkabine, wie eine Spinne, die glaubt, im Dämmerlicht des gerade wolkenverhangenen Himmels einen sicheren Schlupfwinkel gefunden zu haben, wären da nur nicht diese auffallend blondierten, schulterlangen Haare und der durchdringende Blick ihrer blauen Augen. Eher irritiert als interessiert mustert sie die zwei sich seltsamen gebärdenden, arg durchnässten Ruhestörer. Auch unsere einfachen, auf Englisch formulierten Fragen entlocken ihr jeweils nur ein kurzes, aber entschiedenes Kopfschütteln. Es dauert lange, bis sie endlich aus ihrem Versteck zum Schalterfenster heranrückt, um bedächtig ihr Handy aus einer verborgenen Schublade herauszuziehen. Während sie uns mit einem eindringlichen Blick fest im Auge behält, beginnen ihre Finger, wir glauben es kaum, blitzschnell über die Tastatur zu tanzen, bis sie mit einem gezielten Knopfdruck den Übersetzungsmodus aktivieren, um dann, nach diesem fulminanten Schlussakkord, aufs Neue zu erlahmen: «This week until thursday no bus from Banja Luka to Mostar», steht da zu lesen. Zwischen der zweitgrössten Stadt des Landes und Mostar, der wichtigsten Stadt im Süden, gibt es in den nächsten zwei Tagen keine öffentliche Verkehrsverbindung. Wir sind in Bosnien Herzegowina angekommen.

Banja Luka, Hauptstadt der Republika Srpska

Am Hauptplatz von Banja Luka erinnert eine Uhr auf einem geknickten Ständer an die Uhrzeit, als das letzte grosse Erbeben in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober 1969 die Stadt heimsuchte, 20 Menschen tötete und grosse Teile der Innenstadt schwer beschädigte. Keine Erinnerungstafel erinnert hingegen an den Bürgerkrieg von 1992–1995, in dessen Verlauf alle 16 Moscheen der Stadt zerstört wurden, die letzten drei in einer Nacht. Bosniaken und Kroaten flohen oder wurden aus der Stadt vertrieben, umgekehrt strömten serbische Flüchtlinge aus anderen Landesteilen in die Stadt. Lebten vor dem Bürgerkrieg noch über 50 % Serben in Banja Luka, so sind es heute fast 90 %, während umgekehrt vor dem Bürgerkrieg noch über ein Viertel der Bevölkerung in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo Serben war, so sind es heute gerade mal noch 4 %. Nur die oft in Sichtweite voneinander stehenden, verschiedenartigen Gebetshäuser erinnern heute in Bosnien noch daran, dass hier einmal verschiedene Kulturen auf engsten Raum lange Zeit friedvoll zusammenlebten. Das ist alles lange her, aber es gibt Grund zur Hoffnung, denn sogar hierzulande wird hinter vorgehaltener Hand vermehrt gemunkelt, dass an eben jenen Stätten keinem anderen, sondern immer nur demselben Gott gehuldigt wird. Manchmal soll auch die Wahrheit kurze Beine haben. Warum nicht in Bosnien! 

Nicht ethnische oder sprachliche Unterschiede markieren hier die Grenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, sondern kulturelle Gegensätze, die sich eng an die unterschiedlichen Religionen anlehnen, auch wenn diese häufig nur noch eine papierene Wirklichkeit abbilden.

Heute weht überall in der Stadt die serbische Trikolore, wenn auch nicht in ganz denselben Proportionen wie bei der offiziellen serbischen Fahne. Sogar auf dem Kirchturm der serbischen orthodoxen Erlöserkirche im Stadtzentrum flattert trotzig die Flagge mit den serbischen Farben. Nicht ethnische oder sprachliche Unterschiede markieren hier die Grenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, sondern kulturelle Gegensätze, die sich eng an die unterschiedlichen Religionen anlehnen, auch wenn diese häufig nur noch eine papierene Wirklichkeit abbilden. Eingetragene Katholiken sind hierzulande naturgemäss Kroaten, Muslime Bosniaken und serbisch Orthodoxe Serben. Diese Symbiose zwischen Religion und nationaler Identität hat bis heute nichts an ihrer Sprengkraft verloren.

Leida, die uns an der Rezeption unseres Hotels ein Privatauto für unsere Weiterreise organisiert, kümmert das alles herzlich wenig. Es sind nicht die religiös nationalistischen Konflikte, die ihr und den meisten Menschen hier zu schaffen machen, sondern die unübersehbaren wirtschaftlichen Probleme. «Wenn wir einen Job finden, ist er meist so schlecht bezahlt, dass wir kaum davon leben können.» Täglich bilden sich lange Schlangen von Menschen vor dem slowenischen Konsulat in Banja Luka, die ein begehrtes Visum für die EU beantragen wollen. Anders als im alten Jugoslawien sind es jetzt aber nicht mehr Bau- und Fabrikarbeiter, sondern gut ausgebildete Facharbeiter, Ärzte und Akademiker, die ihr Glück im Ausland suchen. Zurück bleiben die ohnehin Benachteiligten, Alte, Kranke und schlecht Ausgebildete. Wir durchwandern eine Stadt, die ihre Versprechen nicht einhalten kann. Viele Menschen weichen unseren Blicken aus. Die Not ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Es ist Mitte Juni, über der Stadt liegt der süsse Duft blühender Linden.

Mostar, die geteilte Stadt

Auf unserer Reise nach Mostar durch dünn besiedelte, aber dicht bewaldete, wilde Bergtäler kommen wir durch ein grösseres Dorf, in dem an den Wänden der meisten Häuser nicht die serbische, sondern die kroatische Fahne hängt, diesmal aber im Original. «It’s because they are Croats!», gibt uns der serbische Fahrer auf unsere Frage lapidar zur Antwort und grinst uns dabei im Rückspiegel kopfschüttelnd an.

Mostar ist der Hauptort der bosnischen Kroaten, die mit gut einer halben Million 15,4 % der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachen und hauptsächlich in der Gegend rund um Mostar leben. Verwaltungstechnisch besteht Mostar seit dem Bürgerkrieg aus einer am westlichen Ufer der Neretva gelegenen kroatischen/katholischen Stadt und einer am östlichen Ufer gelegenen bosniakischen/muslimischen Stadt. Dazwischen liegt das aus osmanischer Zeit stammende Wahrzeichen von Mostar, die berühmte, namensgebende Brücke «Stari Most». Traurige Berühmtheit erlangte die Brücke im letzten Bürgerkrieg, als paramilitärische kroatischen Einheiten sie durch mehrere Kanonenschüsse vollständig zerstörten. Ab 1995 erfolgte dank internationaler Hilfe der Wiederaufbau durch eine nicht ganz zufällig türkische Baufirma.

Als wir auf der muslimischen Seite einen Friedhof besuchen, stellen wir fest, dass in fast allen Gräbern junge Männer begraben liegen, die auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges 1992 den Tod fanden.

Als wir im Franziskanerkloster im kroatischen Stadtgebiet Pater Anto fragen, wieso die Kroaten diese architektonisch bedeutende Brücke zerstörten, meint er im Brustton der Überzeugung lächelnd, sie sei ein wichtiges Kriegsziel während des vaterländischen Krieges gewesen. Was für eine militärische Bedeutung sollte diese schmale Brücke in der unwegsamen Altstadt haben? Uns war klar, ohne es vor ihm auszusprechen, hier sollte keine militärisch bedeutende Brücke, sondern ein wichtiges, identitätsstiftendes Denkmal osmanischer Baukunst zerstört werden. Als wir auf der muslimischen Seite einen Friedhof besuchen, stellen wir fest, dass in fast allen Gräbern junge Männer begraben liegen, die auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges 1992 den Tod fanden. «Die sind nicht alle hier gefallen», antwortet uns auf unsere diesbezügliche Frage ein Iman, der gerade aus der angrenzenden Moschee tritt: «Viele der Toten sind damals unauffindbar weggeschafft oder verbrannt worden. Wir haben ihnen trotzdem ein Grab gegeben, um sie und die Gräuel jener Zeit nicht zu vergessen.» In der engen Altstadt von Mostar erinnert nichts an Banja Luka, aber auch hier blühen die Linden.

Sarajevo, Schmelztiegel der Kulturen

Lange vor Ausbruch des Bürgerkriegs, noch im kommunistischen Jugoslawien, konnte ich während einer Woche als Student für wenig Geld im Studentenheim der nahe an der Altstadt gelegenen Universität von Sarajewo leben und die Stadt gründlich erkunden. Damals war die Altstadt noch ein orientalischer Bazar mit vielen kleinen Handwerksbetrieben. Heute reiht sich ein Verkaufsladen an den anderen, die meisten mit billigen chinesischen Importprodukten im Angebot. Geblieben sind neben den zahlreichen Moscheen im Altstadtbezirk auch die markanten architektonischen Zeitzeugen der kurzen österreichischen Herrschaft von 1878 bis 1918. Aus dieser Zeit stammt auch das ehemalige Stadthaus, das heute die Nationalbibliothek beherbergt. Das Gebäude wurde in der Nacht vom 25. zum 26. August 1992 durch den gezielten Beschuss serbischer Belagerer schwer beschädigt. Mehr als 2 Millionen Bücher und Dokumente verbrannten, darunter auch viele für immer verlorene Originale. Am Abend lesen wir im «Tagebuch der Übersiedlung» von Dzevad Karahasan, dem grossen bosnischen Chronisten jener Zeit: »Alles, was in der wirklichen Welt Freude, Genuss und Schönheit war, wurde hier und heute zu Schmerz.» 

Jetzt, mehr als 30 Jahre später, entdecken wir immer noch, sogar in unmittelbarer Nähe des Parlaments, Plattenbauten, die mit Einschusslöchern übersät sind. Überall in Sarajevo erinnern Tafeln an die Verbrechen des Bürgerkrieges. Eher unscheinbar hingegen, die Tafel an der Lateinerbrücke zum Gedenken an die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie, die den Beginn des 1. Weltkrieges einleitete. Denn auch darüber herrscht hierzulande Uneinigkeit: Während viele Serben den damaligen Attentäter Gavrilo Princip bis heute als Nationalhelden verehren, ist er für die bosnischen Muslime und Kroaten ein Mörder, der für die serbische Besetzung von Bosnien Herzegowina kämpfte. Kaum eine Stadt in Europa, die eine so schwere historische Hypothek zu tragen hat wie Sarajevo. Dessen ungeachtet, versuchen die verschiedenen verbliebenen Kulturen hier und heute wieder in einem friedvollen Miteinander und Füreinander zu leben, aber die alten Geschichten leben weiter und nichts ist schwerer, als das zu vergessen, über das man geweint hat und schwerer noch, denen zu verzeihen, die daran Schuld tragen. 

Die Brücke über die Drina

Es regnet bei kühlen Temperaturen, als wir Sarajevo Richtung Visegrad im östlichen Teil der Republica Srpska verlassen. Der Taxifahrer spricht gebrochen Deutsch und hat uns am Vortag einen vergleichswiese guten Preis für die Fahrt nach Visegrad angeboten. Er heisse Ajnur und stamme ursprünglich aus Visegrád, sei aber schon seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Auf der Fahrt fragen wir ihn, ob er immer noch Groll gegen die Serben hege, die ihn und seine Familie damals vertrieben hätten. Nein, ihm würde es in Sarajevo ebenso gefallen, das alles sei zudem schon lange her und überhaupt sei er Atheist. Am südlichen Rand der Stadt bricht unverhofft die Sonne durch die graue Wolkendecke und die Strassen sind hier auf einmal trocken. «Welcome to the Srpska Republic» steht auf einem grossen Schild am Strassenrand geschrieben. Wir durchfahren eine serbische Enklave mitten im bosnischen Landesteil. Warum hier das Wetter plötzlich besser sei als im Zentrum der Stadt, frage ich Ajnur, worauf er schmunzelnd antwortet, das sei hier nun mal ein anderer Gott, deswegen!

Ivo Andric hat Visegrad und seiner berühmten aus osmanischer Zeit stammenden Brücke mit seinem Roman «Die Brücke über die Drina» ein bleibendes literarisches Denkmal gesetzt, für das er unter anderem 1961 den Nobelpreis erhielt. Andric beschreibt darin die wechselvolle Welt der Menschen auf beiden Seiten der Brücke, auf deren Mitte Bosniaken und Türken, Christen und Muslime, Orient und Okzident sich während vielen Jahrhunderten begegneten, wenn auch nicht immer friedvoll.

Ajnur fährt uns, vorbei an einer wieder aufgebauten Moschee, in den Stadtteil, in dem er aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Er zeigt uns ein neu gebautes Einfamilienhaus, wo vormals sein Elternaus stand. Das sei wie die meisten Häuser an dieser Strasse im Krieg niedergebrannt worden. Wir bitten ihn anzuhalten und die Frau im Vorgarten des Hauses zu fragen, ob sie noch jemand von seinen alten Nachbarn kenne. Die Frau schüttelt den Kopf und wendet sich wortlos rasch ab. 

Wer geglaubt hat, der Balkan hätte sich nach all dem endlosen Leid vieler Kriege aus dem Gedankengefängnis eines menschenverachtenden Nationalismus befreit, wird hier eines Besseren belehrt.

Das Leben in Visegrad und in ganz Bosnien Herzegowina geht trotz alledem seinen gewohnten Gang. Die Gräben zwischen den verschiedenen Volksgruppen drohen indes wieder aufzubrechen, solange die nationalistischen Gespenster immer noch ihren Spuk in den Köpfen der Menschen treiben und es skrupellosen Politikern gelingt, diese gezielt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Wer geglaubt hat, der Balkan hätte sich nach all dem endlosen Leid vieler Kriege aus dem Gedankengefängnis eines menschenverachtenden Nationalismus befreit, wird hier eines Besseren belehrt. Dies gilt aber nicht nur für den Balkan. Auch in anderen Teilen Europas ist die Botschaft nicht wirklich angekommen, dass kulturelle Unterschiede keine Bedrohung darstellen, sondern umgekehrt eine Bereicherung, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen stimmen. Die Zeit drängt. Europa ist gefordert.

In Visegrad blühen an diesem nassgrauen Junitag die Linden, ebenso wie in Banja Luka, Mostar, Sarajevo oder irgendwo sonst in Bosnien Herzegowina oder auf dem Balkan. Gut zu wissen: Der Duft der Linden ist überall und immer derselbe.

Bosnien Herzegowina ist ein zutiefst gespaltenes Land. Das am Ende des Bürgerkrieges (1992–1995) im Dayton Vertrag geschaffene Staatsgebilde unterteilt sich in die mehrheitlich von serbisch orthodoxen Serben bewohnte «Republika Srpska» (49 % des Staatsgebietes und 1,23 Millionen Einwohner) und den mehrheitlich von muslimischen Bosniaken und katholischen Kroaten bewohnten Mittel- und Südteil von Bosnien Herzegowina mit 2,21 Millionen Einwohnern.