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60Plus | Interview | März, 2024
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«Die Erhöhung des Referenzalters ist nur eine Frage der Zeit»

von Gabi Eberle

Ende 2023 wurden in Liechtenstein rund 25 300 Altersrenten (ohne Witwen/Witwer, Waisen, Invalide, Kinder usw.) ausbezahlt. Das sind deutlich über 900 Personen mehr als 2022. Für die nächsten Jahre rechnet Walter Kaufmann, Direktor der AHV-IV-FAK-Anstalten, diesbezüglich mit einem Wachstum von 3 bis 4 % pro Jahr. Die Generation der Babyboomer habe, danach gefragt, durchaus das Recht, in Ruhe finanziell abgesichert alt zu werden. Für ihn ist dabei ausschlaggebend, wie der Gesetzgeber dieses Ziel in einen Frankenbetrag übersetzt. Skeptisch steht er dem Gedanken «von 100 auf 0», einem abrupten Übergang vom Arbeits- ins Pensionsleben, gegenüber, postulierte bereits 2004 die «4. Säule», Teilzeitarbeit im Alter.

Die langfristige Sicherung der Alters- und Hinterlassenenversicherung steht, trotz eines satten Gewinns 2023 und somit wieder schwarzen Zahlen, in den Sternen. Ohne Massnahmen wird sie im Jahr 2038 nicht mehr über die gesetzlich geforderten fünf Jahresreserven verfügen.

Wie viel, Herr Kaufmann, hat die AHV aktuell auf dem Konto? Gehen die «Jungen», die heute 20, 30 sind, leer aus? Blüht ihnen, später ihre betagten Eltern finanzieren zu müssen?

Walter Kaufmann: Die AHV ist im Umlageverfahren finanziert. In einem Umlageverfahren ist es kein Schreckensszenario, dass die «Jungen» die «Alten» finanzieren, sondern das ist genau so vorgesehen. Die Liechtensteinische AHV ist allerdings besonders. Sie ist ein Umlageverfahren mit Schwankungsfonds. Sie hat höhere Finanzreserven als ein «Umlageverfahren in Reinkultur» bräuchte. 2023 konnte aufgrund des gestiegenen Lohnvolumens, wodurch die Beitragseinnahmen um 11 Prozent stiegen, ein Gewinn von 175 Mio. Franken verbucht werden. Der «Kontostand» per 31. Dezember 2023 liegt bei rund 3,4 Milliarden Franken. Die Zahl ist provisorisch; sie wurde von der Revisionsstelle noch nicht geprüft.

«Die vom Gesetzgeber vorgenommenen Anpassungen, beispielsweise eine Anpassung des Referenzalters, haben massgeblich dazu beigetragen, dass die AHV heute noch gerüstet ist, um die künftigen Herausforderungen anzunehmen.»

Die Jungen werden nicht leer ausgehen. Das habe ich 2004 beim 50. Jubiläum der AHV als Prognose vertreten und vertrete ich auch heute. Ende 2004 hatte die AHV 11,8 Jahresausgaben in Reserve. Das versicherungstechnische Gutachten vom 27. Oktober 2005 prognostizierte, dass Ende 2023 je nach Szenario noch 2,7 bis 4,0 Jahresausgaben zur Verfügung stünden. Tatsächlich hat die AHV Ende 2023 deutlich mehr, nämlich rund 9,9 Jahresausgaben in Reserve. Die früheren Szenarien waren Modellrechnungen auf Basis des damaligen Rechts. Spätere Gesetzesanpassungen konnten nicht vorausberechnet werden. Die vom Gesetzgeber vorgenommenen Anpassungen, beispielsweise eine Anpassung des Referenzalters, haben massgeblich dazu beigetragen, dass die AHV heute noch gerüstet ist, um die künftigen Herausforderungen anzunehmen. Dazu gehört auch der Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter.

Ist es für Sie klar, dass das Rentenalter aufgrund der demografischen Lage erhöht werden muss?

Es ist für das System finanziell entscheidend, wie lange jemand nach der Pensionierung Rente bezieht. Diese Bezugsdauer ist heute länger als früher. Damit steigt das Total der an die einzelne Person bis zu ihrem Tod ausbezahlten Rentenfranken. Das ist auf Dauer nicht finanzierbar, sofern der Gesetzgeber nicht nachjustiert. Die Erhöhung des Referenzalters ist also nur eine Frage der Zeit. Das kommt, sobald der finanzielle Leidensdruck so gross ist, dass die Politik sich zu diesem Schritt durchringen kann.

Die Regierung will die Erhöhung des ordentlichen Rentenalters im Hinblick auf den Fachkräftemangel ja fördern.

Theorie und praktische Umsetzung klaffen oft auseinander. Die Lebenserwartung hat sich erhöht, man ist «besser beieinander» als früher, «60 ist das neue 40, 70 das neue 50» m. E. jedoch Unsinn. Die Belastbarkeit lässt nach. Sich in die neuen Technologien in demselben Tempo einzuarbeiten wie junge Leute ist utopisch. An den Arbeitsplätzen prallen Generationen, unterschiedliche Ansichten, Arbeitsweisen, Einstellungen zum Leben und zur Arbeit aufeinander.

Kann sein, dass der ältere Mitarbeiter den Arbeitsbereich, die Position innerhalb des Betriebs wechseln soll, sich aber, mitunter aus Angst vor Bedeutungsverlust, sträubt. Ihre Meinung dazu?

Hand aufs Herz: Der Durchschnitt ist heute mit 60, 65, 70 gesundheitlich besser «zwäg» als früher. Das ist nun mal so, das lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Aber man wird in diesem Alter Pensumsreduktion, mehr Pausen, mehr Ferien usw. und allenfalls auch eine leichtere Arbeit brauchen. Vielleicht wird dann auch der Lohn niedriger sein, z. B. bei Pensumsreduktion. Aber es wird immer noch mehr sein als die Rente. Gut möglich, dass diese Modelle in der Arbeitswelt noch nicht überall gang und gäbe sind. Aber man darf nicht einfach die Augen vor den kommenden Entwicklungen verschliessen. Mit einer Verweigerungshaltung lösen wir keine Probleme. Man muss sowas auch nicht unbedingt als Bedeutungsverlust betrachten, sondern kann es auch als Privileg ansehen, dass man es verdient hat, kürzerzutreten.

Die meisten der «Babyboomer», sprich, die im Zeitraum von 1955 bis 1969 Geborenen, haben ab 20 zu 100 % gearbeitet, über viele Jahre brav ihre AHV-Beiträge bezahlt. Haben sie nicht das Recht, in Ruhe finanziell abgesichert alt zu werden?

Ein funktionierender Staat muss vermeiden, dass seine Bürger sich davor fürchten, im Alter zu verarmen. Die Generation der «Babyboomer» hat genauso wie andere Generationen das Recht, in Ruhe finanziell abgesichert, alt zu werden. Die entscheidende Frage ist dabei, wie der Gesetzgeber das Ziel «in Ruhe, finanziell abgesichert, alt zu werden» in einen Frankenbetrag übersetzt. Diese Frage kann die AHV-Verwaltung nicht beantworten, dass kann nur der Gesetzgeber. Die AHV-Verwaltung hat die Beschlüsse des Gesetzgebers umzusetzen.

Wie stehen Sie zur Frühpension, sprich AHV-Vorbezug? Das muss man sich leisten können.

Punkto Rentenvorbezug vertrete ich die Auffassung, dass es eine gerechte Lösung braucht. Das heisst: Wer vorbezieht, soll gegenüber denjenigen, die ihre Rente später abrufen, weder einen Nachteil noch einen Vorteil haben. Und genau so eine Lösung haben wir heute, indem die Kürzungssätze beim Vorbezug bzw. die Zuschlagssätze beim Aufschub versicherungsmathematisch gestaltet sind. Am Ende der Bezugsdauer haben beide gleich viel Rente bezogen, die Vorbezugsrentner ein bisschen weniger pro Monat und dafür länger, die anderen ein bisschen mehr pro Monat aber eben weniger lang. Apropos: Wenn die Lebenserwartung weiter steigt, dann können versicherungsmathematisch die Vorbezugskürzungssätze künftig geringer ausfallen.

«Wir rechnen für die nächsten Jahre mit einem Wachstum von 3 bis 4 % pro Jahr bei den Altersrenten. Erfahrungsgemäss wählt ungefähr die Hälfte der Neurentnerinnen den Rentenvorbezug.»

Die Zahl der Rentenkunden steigt stärker als die Zahl der Beitragskunden. Wie viele sind aktuell bei der AHV gemeldet bzw. sind in den nächsten 10 Jahren zu erwarten? Wie viele davon sind Vorbezüger?

Wir hatten Ende 2023 rund 25 300 Altersrenten (ohne Witwen/Witwer, Waisen, Invalide, Kinder usw.). Das sind deutlich über 900 Personen mehr als vor einem Jahr. 2023 hatten wir über 1700 Anträge auf Altersrente, aber natürlich auch Todesfälle. So bleibt ‹netto› die Zahl von rund 900. Wir rechnen für die nächsten Jahre mit einem Wachstum von 3 bis 4 % pro Jahr bei den Altersrenten. Erfahrungsgemäss wählt ungefähr die Hälfte der Neurentnerinnen den Rentenvorbezug. Ungefähr ein Fünftel der Neurentner entscheidet sich sogar für den frühestmöglichen Rentenvorbezug (nämlich ab Alter 60), die übrigen Neurentner rufen die Rente irgendwann nach Alter 60 ab.

Immer wieder Thema: der Rentenexport. Wie viel Geld fliesst über den Staatsbeitrag tatsächlich ins Ausland?

Immer wieder gerne beantwortet: Ungefähr ein Drittel der ausbezahlten AHV-Rentenfranken fliesst an Personen mit Wohnsitz im Ausland. Und in diesem Zusammenhang immer wieder gerne klargestellt: Etwas mehr als die Hälfte der AHV-Beitragseinnahmen auf den Löhnen usw. kommt von Personen mit Wohnsitz im Ausland. 

Die Regierung hat am 13. Dezember 2022 beschlossen, auf Januar 2023 hin den Eckwert der Mindestrente von CHF 1160.– auf CHF 1190.– zu erhöhen. Dreissig Franken mehr pro Monat. Hierzulande würde man sagen, das ist «s’Bettla versummt».

Eine kleine Ergänzung: Der Gesetzgeber hat der Regierung das Ausmass der Rentenerhöhung vorgezeichnet. Es ist also nicht so, dass die Regierung eine Möglichkeit gehabt hätte, die Renten stärker zu erhöhen. Das kann nur der Landtag. Zu den AHV-Rentenbeträgen: Richtig, selbst mit der Höchstrente von annähernd CHF 32 000.– pro Jahr pro Einzelperson bzw. annähernd CHF 64 000.– pro Jahr bei Ehepaaren macht man in Liechtenstein keine allzu grossen Sprünge. Aber es gibt neben der AHV ja auch noch eine Pensionskasse und eine freiwillige Vorsorge. Die letzten beiden haben leider keinen Teuerungsautomatismus wie bei der AHV. Von der öffentlichen Hand kommen immerhin noch verschiedene Vergünstigungen für Rentner, die auch wieder finanziell helfen. Man muss das Gesamtsystem betrachten. Altersvorsorge ist weit mehr als nur AHV. Eine Reduktion des Themas finanzielle Altersvorsorge auf die Rentenbeträge der AHV wäre dilettantisch.   

«Die Sozialfürsorge berücksichtigt nämlich die wirtschaftliche Lage des Einzelnen im Zeitpunkt des Leistungsbezugs. Anders ist es bei der AHV. Sie berücksichtigt die wirtschaftliche Lage des Einzelnen während seines Erwerbslebens, also im Zeitpunkt seiner Beitragsentrichtung.»

Wäre eine vermögensabhängige Rentenberechnung ein gangbarer Weg für die Zukunft?

Die Altersrente der AHV liegt je nach Versicherungsdauer und Versicherungskarriere zwischen CHF 27.– und CHF 2380.– pro Monat. Die Idee, die Altersrente davon abhängig zu machen, ob jemand im Alter Vermögen hat oder nicht, kommt immer wieder. Das ist jedoch ganz einfach nicht durchführbar. Es geht ja nicht nur um Vermögen; es gibt neben der AHV noch weitere Einnahmen, die jemand haben kann. Und diese Einkommens- und Vermögensdaten kennen wir nicht, weder bei den Wohnsitzern noch bei den RentnerInnen im Ausland. Wenn man die «staatliche Altersvorsorge» also von den finanziellen Verhältnissen des Einzelnen abhängig machen will, muss man die AHV abschaffen, die rund 3,4 Milliarden Franken dem Staat übertragen und den Einzelnen in die Abhängigkeit von Sozialfürsorge geben. Die Sozialfürsorge berücksichtigt nämlich die wirtschaftliche Lage des Einzelnen im Zeitpunkt des Leistungsbezugs. Anders ist es bei der AHV. Sie berücksichtigt die wirtschaftliche Lage des Einzelnen während seines Erwerbslebens, also im Zeitpunkt seiner Beitragsentrichtung. Ein Wechsel von der AHV hin zur Sozialfürsorge hätte dann allerdings wirklich nichts mehr mit dem von Ihnen formulierten Ziel «in Ruhe, finanziell abgesichert, alt zu werden» zu tun. Noch ein wichtiger Punkt: Das eingangs beschriebene Versicherungsprinzip (Beitragsdauer und Beitragskarriere) wird durch eine enorme Solidarität durchbrochen. Wer viel Erwerbseinkommen erzielt, zahlt viel Beiträge an die AHV, viel mehr als für die eigene Rente nötig wäre. Und damit werden Renten von tieferen Einkommensschichten finanziert. Wenn man nun im Alter den Leuten, die während der Erwerbskarriere hohe Beiträge bezahlen mussten, auch noch die Rente kürzen will, dann geht das einfach zu weit. Schon heute wird die Solidarität manchmal über Gebühr strapaziert. Wenn man das übertreibt, dann verlieren die guten Beitragszahler den Glauben an das System. Und dann wird auch niemand mehr bereit sein, private Vorsorge zu treffen. Das halte ich für ein ungünstiges Szenario.     

Am 3. März 2024 wurde in der Schweiz die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente mit 58 % Jastimmen angenommen, die Initiative der Jungfreisinnigen zur Erhöhung des Rentenalters auf 66 Jahre ging mit 74,7 % Neinstimmen bachab. Was sagen Sie zu den Resultaten?

Das Abstimmungsresultat in der Schweiz sollte niemanden überraschen. Sie werden sich nun um die «Details» und die Finanzierung kümmern müssen. Da haben wir die Nase voraus. Wir haben das Weihnachtsgeld (damals übrigens gegen den Wunsch der AHV-Verwaltung) schon 1992 eingeführt, zunächst aber nur als 25 %-Rente. In Liechtenstein müssen wir uns eine andere Frage stellen, nämlich, welches Niveau die AHV-Rente insgesamt haben soll. Das wird den Gesetzgeber dauernd beschäftigen.

Zum Schluss zwei persönliche Fragen: Wie sieht ein durchschnittlicher Arbeitstag bei Ihnen aus? Und: Wie lange haben Sie die Absicht, zu arbeiten?

Jeder Tag ist anders. Wir erheben die Zeit, die wir in einzelne Themen investieren. Über ein Jahr betrachtet, beschäftige ich mich zu rund 11 % mit einem Thema, das AHV, IV oder FAK konkret betrifft. Der Rest meiner Tätigkeit entfällt auf Unternehmensführung, Vermögensverwaltung usw.

Wir traktandieren regelmässig die Ablösung des Kaders und halten die Szenarien schriftlich fest. Das ist ein routinemässiges Vorgehen. Das letzte Mal war dies am 30. Januar.

Ich will gerne bis zum letzten Arbeitstag arbeiten. Wann dieser Tag sein wird, wissen wir noch nicht. Ich bin ja weit vom Referenzalter 65 entfernt. Übrigens stehe ich dem Gedanken, von einem Vollzeitpensum schlagartig auf ein Null-Pensum zu wechseln, skeptisch gegenüber. Auch hier: Ich habe anno 2004 beim 50. Jubiläum der AHV die «4. Säule (Teilzeitarbeit im Alter)» postuliert. Meine aktuelle Funktion wäre in Teilzeit allerdings eher schwierig. So muss ich, wenn ich eines Tages bei den AHV-IV-FAK-Anstalten «den Hut nehme», eine andere sinnstiftende Tätigkeit suchen. Allerdings wünscht man sich im Alter natürlich ein geringes Pensum. 

Das Interview mit Walter Kaufmann wurde schriftlich geführt.

Walter Kaufmann (geb. 1963, Liechtensteiner) studierte Rechtswissenschaften an der Universität Zürich (1985 bis 1990, Abschluss mit lic. iur.) Von 1990 bis 1996 war er als Mitarbeiter im Rechtsdienst der AHV-IV-FAK-Anstalten tätig. 1996 trat er die Leitung des Rechtsdienstes an. 1997 übernahm er auch die Funktion als Stellvertreter des Direktors. Zudem war er von der Regierung als Vertreter Liechtensteins (für die von den AHV-IV-FAK-Anstalten betreuten Rechtsbereiche) in verschiedenen EWR-Kommissionen im Bereich «Soziale Sicherheit» delegiert. Diese zuletzt bekleideten Funktionen endeten im Jahr 2006, als Walter Kaufmann vom Verwaltungsrat zum Direktor der AHV-IV-FAK-Anstalten bestellt wurde. Walter Kaufmann ist mit Judith Oehri verheiratet. Sie leben und arbeiten in Liechtenstein.